Die Kunst anders zu heilen
1979 stellte eine mutige Gruppe die sozialen Normen von San Francisco in Frage, indem sie die Schwestern der Perpetuellen Indulgenz gründete. Diese Gruppe, die Drag, religiöse Bildsprache, Pflege und Aktivismus miteinander verbindet, nutzt Humor, um wichtige Fragen zu Sexualität, Geschlecht und Moral anzusprechen. Aber über ihr ikonoklastisches Erscheinungsbild hinaus haben die Schwestern es geschafft, Räume des Widerstands gegen die vorherrschenden Erwartungen zu schaffen und so einen echten Weg für das Empowerment marginalisierter Gemeinschaften zu öffnen, insbesondere für Menschen, die mit HIV leben.
Von Mathy (Mathieu) Turcotte – Lehrbeauftragter an der Hochschule für Gesundheit La Source, HES-SO, Lausanne
Die Schwestern der Perpetuellen Indulgenz
Die ersten Schwestern entstanden im Castro-Viertel, dem Zentrum der LGBTIQ-Kultur von San Francisco. Indem sie Nonnenkleidung trugen, lenkten sie die Aufmerksamkeit auf soziale und politische Themen. Ihr Vorgehen ist nicht nur eine künstlerische Darbietung, sondern ein Akt des sozialen Protests gegen eine Gesellschaft, die LGBTIQ-Vielfalt stigmatisiert. Durch die parodistische Aufführung bestimmter religiöser Rituale legen sie die Mängel der hegemonialen Normen zu Geschlecht und Sexualität bloß – die Grundpfeiler unserer zeitgenössischen Gesellschaft und damit auch des Gesundheitssystems. Diese Aufdeckungen visibilisieren die Anerkennung und Feier von nicht-heterosexuellen oder cisgender Lebenswegen.
Schon zu Beginn der HIV/AIDS-Epidemie leisteten die Schwestern der Perpetuellen Indulgenz einen wichtigen Beitrag zur Unterstützung der betroffenen Personen. Eine ihrer bedeutenden Aktionen war die Organisation von revitalisierenden Retreats für Menschen, die von HIV, homophober Diskriminierung und anderen Formen der Unterdrückung betroffen sind. Diese Aufenthalte ermöglichen es Menschen – homosexuellen, bisexuellen, transgeschlechtlichen, Drogenkonsument:innen und heterosexuellen Personen – ihren Alltag und ihre Energie mit den Schwestern zu teilen. Für Menschen, die mit HIV leben, bietet das Modell der Schwestern wertvolle Lehren. Ihre Resilienz angesichts von Widrigkeiten, ihre Fähigkeit, Schmerz in konstruktives Handeln zu verwandeln, und ihr Engagement für Solidarität machen sie zu inspirierenden Vorbildern. Durch die Förderung einer positiven Sicht auf das Leben mit HIV entlasten sie die Diagnose von Tabus und pathologisierenden Darstellungen und feiern die Vielfalt menschlicher Erfahrungen und das Leben in all seinen Formen.
1982 lancierten sie „Play Fair!“, einen sexuellen Aufklärungsleitfaden, der von und für Betroffene erstellt wurde und Bewusstsein, Aufklärung, Einverständnis und satirischen Humor fördert. In einer Zeit, die von Angst und Fehlinformationen über HIV geprägt war, markierte dieses Heft einen Wendepunkt in der öffentlichen Gesundheitsarbeit.
Die Bewegung der Schwestern verbreitete sich rasch weltweit, mit autonomen Häusern, die an die lokalen Gegebenheiten angepasst sind (über 80 Klöster weltweit). Diese dezentralisierte Struktur fördert Autonomie und ermöglicht es jedem Haus, auf die spezifischen Bedürfnisse seiner Gemeinschaft einzugehen. 2005 trat der Orden der Perpetuellen Indulgenz auch in der Schweiz in Erscheinung, zunächst in Zürich, wo er acht Jahre lang aktiv war. Das Kloster der Kraniche hinterließ ebenfalls bleibenden Eindruck in der Romandie, bevor es ebenfalls inaktiv wurde. Heute gibt es weiterhin französischsprachige Klöster in Lyon und Paris.
Obwohl die Bewegung etwas an Popularität verloren hat, zeigen die Schwestern, wie eine flexible und inklusive Struktur das Entstehen einer kollektiven und therapeutischen Handlungsmacht erleichtern kann. Dieses Modell findet sich auch bei den Radikalen Feen, einer Gruppe, die ebenfalls künstlerische und spirituelle Initiativen fördert und zeigt, dass gesellschaftlicher Wandel durch Zusammenarbeit und Selbstbestimmung erreicht werden kann.
Die Kraft des Drag
Die Kunst des Drag hat eine kraftvolle Wirkung, die über den Gemeinschaftssinn und die gesellschaftlichen Konflikte hinausgeht. Als Krankenschwester und Drag-Künstlerin hat mich ihre therapeutische Kraft stets fasziniert. Es hat mich dazu gebracht, mich zu fragen, warum ich auf der Bühne als Drag-Queen mehr das Gefühl habe, „zu heilen“, als am Krankenbett meines Patienten als Krankenschwester.
Aus diesem Grund habe ich ein partizipatives Doktoratsprojekt mit sieben Drag-Künstler:innen aus dem Kanton Waadt gestartet, bei dem die Kunst des Drag untersucht und gleichzeitig aufgeführt wird, um ihren therapeutischen Charakter herauszustellen. Dieses Projekt, das aus der Pflegewissenschaft hervorgeht, zielt darauf ab, neue Verbindungen zwischen Kunst und Wissenschaft zu entwickeln, um eine partizipative Darbietung zu schaffen, die ein Gefühl der Heilung vermittelt – einer radikalen Pflege, die auf die tieferliegenden Ursachen dessen abzielt, was wir in unserer heutigen Gesellschaft verändern wollen, wie es die Schwestern erfolgreich getan haben und weiterhin tun.
Es handelt sich um eine Form der „kritischen Pflege“, die die pathologisierenden und moralisierenden öffentlichen Gesundheitsakte hinterfragt und sogar Widerstand leistet, da sie weiterhin eine stigmatisierende Wirkung auf LGBTIQ-Gemeinschaften ausübt.
Mit diesem Doktoratsprojekt, das sich in unserer queeren Kunstgeschichte verankert, möchten wir zur Anerkennung der Handlungsfähigkeit der lokalen LGBTIQ-Wegen beitragen und zeigen, dass Pflege ein mächtiges Instrument sein kann, um unterdrückende Strukturen zu überwinden oder sogar neu zu definieren. Diese Aktion soll eher widersprüchlich als randständig sein, da sie nicht nur auf Toleranz oder Akzeptanz abzielt, sondern darauf, das Wissen und die Pflegepraktiken der LGBTIQ-Gemeinschaft anzuerkennen, um die allgemeine Gesundheitsversorgung inklusiver zu machen.
Das Erbe der Schwestern
Am Ende stehen die Schwestern der Perpetuellen Indulgenz für eine Art von Heilung, die Kunst, Pflege, Solidarität und das Infragestellen von Normen miteinander verbindet. Wie die Grundlagen meines Doktoratsprojekts zeigen, inspiriert ihr Erbe weiterhin neue Generationen, sich zu engagieren, Normen zu hinterfragen und für ein gerechteres und inklusiveres Gesundheitssystem zu kämpfen. Auch wenn einige Klöster derzeit inaktiv sind, bleibt das Beispiel der Schwestern eine unermessliche Quelle der Inspiration.
„Möge die heilige Pouffe, Patronin der Klöster in Frankreich, die heilige Sapho, Patronin der Mädchen, die Mädchen lieben, die heilige Tapiola, Patronin der Jungen, die Jungen lieben, die heilige Cyclette, Patronin der Bisexuellen, (…) die heilige Rita, Patronin der hoffnungslosen Fälle – und damit der Heteros – euch mit Liebe, Freude und Frieden beschützen.“
