Drogen und wir: Wie der Konsum die Gesellschaft verändert – und umgekehrt

Drogen gehören zu unserer Gesellschaft. Unvergessen bleibt in der Schweiz die grosse Krise in den Achtziger- und Neunzigerjahren: Nebst dem Elend der offenen Drogenszenen brachte sie die Ausbreitung von HIV und Hepatitis mit sich. Seither ist klar: Erst das Wissen über Drogen ermöglicht einen risikoarmen Konsum.

Moana Mika, medizinische Wissenschaftlerin und Wissenschaftsjournalistin

Wann ist eine Droge eine Droge? Viele denken dabei wohl zuerst an das Heroin, das in einer dunklen Ecke des Parks in die Vene gespritzt wird. Nicht aber an das Nikotin, das zwischen Deadline und Video-Call durch den Büroalltag trägt. Gemäss Weltgesundheitsorganisation WHO sind Drogen Substanzen mit psychoaktiver Wirkung. Also Substanzen, die zum Beispiel die Stimmung aufheitern. Grosse Emotionen auslösen. Oder auch das Gedächtnis verlangsamen. 

Das Glas Rotwein am Abend, das wohlig-warm einlullt? Das Feierabendbier, das den Alltag kurz vergessen lässt? Oder eben die Zigarette für den nötigen Energieschub? Rein medizinisch betrachtet, konsumieren wir alle Drogen.

Tatsache aber ist: Drogen werden seit jeher nicht nur nach medizinischen, sondern auch nach gesellschaftlichen Kriterien definiert. Noch zu Beginn des 20. Jahrhunderts geriet hierzulande Alkohol in Verruf: Das «Gift» schädige nachhaltig die Gesellschaft. Und als um 1960 Cannabisprodukte aufkamen, wurden die Hände verworfen ob der Verwahrlosung der Jugend. Heute lösen weder Alkohol noch Cannabis einen Aufschrei aus. Hingegen aber der rekordhohe Kokainkonsum in Zürich. Oder die verheerende Crackschwemme in Genf.

Klar ist: Psychoaktive Substanzen wurden schon immer konsumiert und werden auch immer konsumiert werden. Aber erst die Auseinandersetzung in der Gesellschaft bestimmt den Umgang mit ihnen. Sie bestimmt, ob eine Droge als Droge bezeichnet wird, ob sie als Rausch- oder als Genussmittel gilt, ob sie geächtet ist oder salonfähig wird, ob Konsumierende in die Illegalität getrieben werden oder ob ihnen ein risikoarmer Konsum ermöglicht wird. Und diese Auseinandersetzung kann sich hinziehen. Sehr lange hinziehen.

Krisenjahre, Heroin und HIV

Rückblende: Noch in den Achtzigerjahren war es in Teilen der Schweiz unverheirateten Paaren nicht erlaubt, zusammen zu wohnen. Die Repression war gross und Freiräume für die Jugend gab es kaum. Die englische Punkband Sex Pistols schrie sich im Song «God Save the Queen» ein zorniges «There's no future!» aus dem Leib. Die Liedzeile wurde zum Motto einer ganzen Generation – no future, keine Zukunft. Zu allem Übel kam in der Schweiz zu Beginn der Neunzigerjahre auch noch eine überdurchschnittlich hohe Arbeitslosigkeit hinzu. Von Krisenjahren war die Rede. Die aussichtslose Schweizer Jugend reagierte mit einer Scheiss-Drauf-Haltung und Verachtung gegenüber allem Bünzlitum. Und dann kamen die Drogen: Auf die durstende Generation schlugen sie wie langersehnter Regen nieder. Heroin und Kokain trafen auf Neugier, Toleranz und Abenteuerlust – wer wollte schon spiessig sein? Und zu verlieren gab es sowieso nichts.

Ab Mitte der Achtzigerjahre nahm die Zahl der Menschen, die sich Drogen spritzten, rasant zu. Der Zürcher Platzspitz wurde auf der ganzen Welt als «Needle Park» bekannt. Zeitenweise verkehrten dort um die 3'000 Konsumierende, viele blieben auch gleich über Nacht. Es gab Tage, an denen die Sanität bis zu 25 Menschen im Park wiederbelebte. 

Auf den Schrecken der Drogenkrise folgte sogleich der nächste: HIV und Aids. Und dieser Schrecken erschütterte das Land wie ein verheerendes Nachbeben: Wieder musste mit angesehen werden – fassungslos und überfordert –, wie die Menschen nun nicht mehr nur an den Drogen, sondern auch an einer grauenvollen, bislang unbekannten Krankheit starben. Zwischen 1983, als die Schweiz offiziell die erste HIV-Infektion erfasste, und 2016 steckten sich mehr als 4'800 Menschen über Spritzen an. Bis zu Beginn der Neunzigerjahre war der intravenöse Drogenkonsum der häufigste Übertragungsweg. Der Peak wurde 1990 erreicht: Allein in diesem Jahr kam es zu 553 Ansteckungen unter Konsumierenden. Zum Vergleich: 2023 waren es noch vier. Was ist in der Zwischenzeit geschehen?

Vier Säulen auf das gesellschaftliche Versagen

Das Elend der offenen Drogenszenen löste in der Bevölkerung grosses Entsetzen und in der Politik aufgeheizte Debatten aus. Der Aargauer Kantonsarzt Hans Pfisterer sagte bereits 1973 in einem Interview im Schweizer Fernsehen: «Meines Erachtens ist Drogenabhängigkeit das Symptom eines gesellschaftlichen Versagens.» Diesem Versagen wurde zu Beginn der Neunzigerjahre nun endlich entgegengewirkt: Nach langem Hin-und-Her wurde das Viersäulenprinzip schweizweit etabliert. Das Modell schrieb vor, nebst Prävention, Therapie und Strafverfolgung auch die dringend nötige Schadensminderung einzuführen. Erst dank dieser wurden – gesetzlich gestützt – Drogenanlaufstellen eingerichtet, Methadon abgegeben, saubere Spritzen verteilt. 

Die Schadensminderung hat ein einziges Ziel: Die negativen Folgen des Drogenkonsums so klein wie möglich zu halten. Die Konsumierenden sollen ein möglichst beschwerdefreies und selbstbestimmtes Leben führen können.

Und trotzdem – die Massnahmen, die während der Drogenkrise aufgegleist wurden, hinkten hinterher: Hunderte starben an den Drogen, tausende steckten sich mit HIV und viraler Hepatitis an. Und ob drogenabhängig, HIV-infiziert oder weder noch: Das ganze Land wurde durch die Krise geprägt. 

Drogen sind listig: Sie kapern Schaltkreise in unserem Gehirn, und zwar diejenigen, die für das Belohnungssystem zuständig sind. Unser Gehirn lechzt nach dem Rausch der Belohnung und kann nicht genug davon kriegen. Aber wie mit allem, was Spass macht, nimmt mit der Zeit die Wirkung ab. Um das Belohnungsgefühl noch auszulösen, muss immer häufiger und immer mehr konsumiert werden. Nach und nach können Drogen das Gehirn derart verändern, dass es ohne gar nicht mehr richtig funktioniert. Im Gegenteil: Die Abstinenz löst Symptome aus – Angstzustände, Zittern, Schwitzen, Übelkeit, Unruhe. 

Heute geht man davon aus, dass rund 20 Prozent der Drogenkonsumierenden durch Substanzen wie Heroin, Kokain und Amphetamine abhängig werden. Es wird immer noch erforscht, warum einige Menschen eine Sucht entwickeln und andere nicht. 

Die Lehren daraus?

Warum also konsumieren wir Drogen? Wenn sie uns schaden und leiden lassen? Darauf gibt es wohl so viele Antworten wie Menschen, die Drogen konsumieren. Drogen können reiner Genuss sein. Sie können aber auch ein Mittel sein, um mit Schmerzen umzugehen – körperlichen wie psychischen. Für einige sind Drogen ein Weg, um mit sich und der Welt klarzukommen. Für andere sind sie der Türöffner ins nächste Abenteuer – das Verbotene, der Kick, der Spass. Und wieder andere suchen im gemeinsamen Konsum die Zusammengehörigkeit, die Community.

So oder so: Was bereits ab den Nullerjahren klar wurde, ist heutzutage unbestritten: Die Massnahmen in der Schadensminderung wirkten als Antwort auf die Drogenkrise. Die Schweizerische HIV-Kohortenstudie SHCS berechnete vor einigen Jahren in einem Modell das Ausmass hinsichtlich HIV-Infektionen – mit eindeutigem Resultat: Über 15'000 zusätzliche HIV-Fälle bei Drogenkonsumierenden wurden verhindert und mehr als 5'000 Todesfälle durch Aids abgewendet. 

Seit der Krise in den Achtzigern und Neunzigern hat sich der Drogenkonsum in der Schweiz stark verändert: Die offenen Drogenszenen sind verschwunden, der intravenöse Konsum ist zurückgegangen. Vermehrt eingenommen werden hingegen sogenannte Freizeitdrogen, wie die Schweizerische Gesundheitsbefragung des Bundesamts für Statistik zeigt. Also zum Beispiel das Ecstasy am Dayrave, das die Glücksgefühle im Gleichtakt der Technobeats ausschütten lässt. Oder die Linie Kokain auf dem Weg in den Ausgang, um sich stark wie ein Löwe ins Getümmel zu werfen. Oder auch das Metamphetamin an der Chemsex-Session, denn das Spiel der Liebe soll zum wahren Powerplay werden.

Drogen gehören zu unserer Gesellschaft. Was nicht dazu gehören darf, sind Krisen, wie sie die Schweiz in den Achtzigern und Neunzigern durchlebt hat. Mit all dem Elend, das die Zeit mit sich brachte im Hinterkopf: Das Land hat gelernt, ist daran gewachsen und neue Wege gegangen. Heute ist ein aufgeklärter und informierter Konsum möglich – denn zu wissen, welche Auswirkungen und Konsequenzen Drogen haben, ermöglicht erst, damit umzugehen. Und mit diesem Wissen ist es auch völlig egal, ob die Substanz nun als Droge bezeichnet wird oder eben nicht.