HIV/Aids in der Schweiz - Eine Epidemie verändert die Gesellschaft

Wie kaum eine andere Krankheit die Schweiz prägend Die HIV / Aids-Epidemie forderte seit ihrem ersten in der Schweiz nachgewiesenen Fall 1980 zahlreiche Todesopfer. Auf ihrem Höhepunkt waren es über 500 jährlich und bis heute sind es schätzungsweise über 6600 insgesamt. In der Schweiz leben ca. 17 500 Menschen mit HIV. Noch überträgt sich das Virus in rund 350 Fällen (2023) und diese Anzahl geht nur sehr langsam zurück. Doch nicht allein diese Zahlen und jedes dahinterstehende menschliche Schicksal machen HIV zu einem einzigartigen gesellschaftlichen Phänomen.

Dr. phil. Philipp Hofstetter, Interdisziplinäres Zentrum für Geschlechterforschung der Universität Bern

Die erschütternden Bilder abgemagerter Männer im besten Alter, die beispiellose nationale Auf­klärungskampagne, der verbreitete Gebrauch von Kondomen, anonym wirkende Bilder von Blut­konserven, die bunten Charity-Partys, die therapeutischen Fortschritte – all das hat sich ins kollektive Gedächtnis der Schweiz eingebrannt. Die Geschichte reicht aber tiefer und geht «durch die Haut.» Zunächst galt das Virus als ein Problem marginalisierter Gruppen. Bald wurde klar, dass HIV als sexuell übertragbare Infektion potenziell alle betreffen kann. Mit ihrer Ausbreitung sah sich die Schweiz allzu plötzlich einer riskanten Zukunft gegenüber. Die Gesellschaft hat es sprichwörtlich nicht ins Mark, sondern bis ins Blut getroffen.

Die Reaktion der Schweiz: Ein Spiegel gesellschaftlicher Werte

Die leitende Geschichte liegt in der Abfolge und Gleichzeitigkeit der nationalen Bewältigungsstrategien, mit denen die Schweiz diese Katastrophe meisterte und nach wie vor meistert. Betrachten wir die Entwicklung von Anfang an: Als die mysteriöse Krankheit Aids auftauchte, wurde sie rasch als «Schwulenseuche» stigmatisiert. Das mittelalterliche Konzept der Seuche hatte die Jahr­hunderte überdauert – wie einst die Pest bot es auch für prominente Stimmen eine Erklärung in Form einer göttlichen Strafe. Gott sitzt an den Hebeln der Natur und diese sorgt vor. Wer zusehen musste, wie nächste Menschen starben, konnte sich zumindest mit der Vorstellung trösten, dass es einen höheren Sinn in der Tragödie gab. Doch dieses Bild wies Widersprüche auf: Warum sollte eine göttliche Strafe ausgerechnet jene treffen, die ohnehin diskriminiert und marginalisiert wurden? War es eine doppelte Bestrafung – oder eine Warnung an andere?

Die Tatsache, dass vor allem Männer, die Sex mit Männern hatten, betroffen waren, machte die moralische Verurteilung umso gravierender. Gerade die homosexuelle Gemeinschaft wurde zum Ziel solcher Schuldzuweisungen – dabei hatte sie sich in den 1970er-Jahren erst mühsam von gesellschaftlichen Zwängen befreit. In den 1980er-Jahren war die Bewegung jedoch so erstarkt, dass aus der Tragödie von Aids eine organisierte Selbsthilfe entstand. Ihr Einsatz für sexuelle Aufklärung traf auf das Interesse der Mediziner:innen – eine fruchtbare Allianz.

Medizin, Prävention und gesellschaftliche Solidarität

Prävention war von Beginn an mehr als eine medizinische Strategie – sie wurde zu einem Ausdruck gesellschaftlicher Solidarität. Eine Gemeinschaft konnte ihr Schicksal selbst in die Hand nehmen. Die Schweiz hatte bereits Erfahrung mit gemeinschaftlichen Gesundheitsprojekten. Grosse nationale Massnahmen wie die Flusskorrekturen im 19. Jahrhun­dert schützten nicht nur vor Überschwemmungen, sondern reduzierten auch die Gefahr von Malaria. Der Kampf gegen Syphilis und andere sexuell übertragbare Infektionen führte um 1900 zu breit angelegten Aufklärungskampagnen. So war die Gesellschaft bereits mit sexueller Aufklärung vertraut, und niemand konnte in den 1980er-Jahren – in einer nunmehr kommerzialisierten und medial aufgeladenen Sexwelt – besser über das Tabuthema sprechen als die schwule Community und ihre Freund:innen gemeinsam mit den Präventivmediziner:innen. Sexualität betrifft alle, wurde zusammen vermittelt, auch wenn HIV streng genommen keine rein sexuell übertragbare Infektion ist. Diese gesellschaftliche Einsicht trug massgeblich zum Erfolg der Schweizer Informationskampagnen bei.  Als die mysteriöse Krankheit Aids auftauchte, wurde sie rasch als «Schwulenseuche» stigmatisiert. Doch auch das Präventivkonzept stiess an seine Grenzen. Die Fortschritte in der Wissenschaft hatten lange die Illusion genährt, Krankheiten durch Hygiene, Antibiotika, Impfprogramme, spezialisierte Operationen und Behandlungen dauerhaft in den Griff zu bekommen. Allein die damalige Krebsforschung zeigte, dass der Mensch in einem komplexeren Wechselspiel mit seiner Umwelt steht. Die Risiken von Krankheiten waren oft unsichtbar. Sie wurden zu stetigen Begleitern in der gesellschaftlichen Wahrnehmung. Die Forschung erkannte schnell die Notwendigkeit neuer medizinischer Ansätze.HIV selbst machte die Grenzen der medizinischen Forschung weiter deutlich. Ein schneller Durchbruch blieb aus. Stattdessen wurde HIV zur Plattform für Medikamentenversuche an Patient:innen. Immer wieder kamen neue Arzneimittel-Cocktails auf den Markt, die Hoffnung auf Linderung versprachen. Erst 1996 gelang mit der Kombinationstherapie – einer Kombination aus drei Zellwirkmechanismen – ein entscheidender Durchbruch: Zum ersten Mal konnten Betroffene langfristig mit dem Virus leben.

Die Lehren aus der Drogenpolitik

Die offene Drogenszene der 1980er- und 1990er-Jahre und eine daraus resultierende Beschaffungs­prostitution führten zu weiteren wichtigen Erkennt­­nissen. Sie mussten schmerzhaft erlernt werden. Neben Aufklärung und Prävention, Therapie und repressiven Massnahmen erkannten engagierte Menschen die Notwendigkeit schadensmindernder Strategien. Das aus den USA stammende Konzept des «New Public Health Management» setzte sich durch. Der Faktor Überlebenshilfe gewann an Bedeutung. Die kontrollierte Abgabe sauberer Spritzen und regelmässige medizinische Untersuchungen ermöglichten eine frühzeitige Therapie. Heute gibt es kein Leben ohne HIV – aber eine Gesellschaft, die gelernt hat, damit zu leben.

Leben mit HIV: Eine neue Normalität

Heute gibt es kein Leben ohne HIV – aber eine Gesellschaft, die gelernt hat, damit zu leben. Das Vorsorgeprinzip wurde durch ein Resilienzkonzept ergänzt. Dieses verfolgt das Ziel, den Körper so zu stärken, dass er widerstandsfähiger gegen das Virus wird. Diese Entwicklung führt auch zu einer Individualisierung der Verantwortung. HIV ist längst nicht mehr nur eine kollektive Herausforderung – sondern eine Frage des persönlichen Selbst­managements. Präventivmassnahmen wie die PrEP (Präexpositionsprophylaxe) ermöglichen es heute, dass Menschen mit erhöhtem Risiko regelmässig Medikamente einnehmen, um sich vor einer Infektion zu schützen. Die Grenze zwischen gesund und krank verschwimmt weiter, wenn auch gesunde Menschen prophylaktisch Pillen nutzen.

Verändertes Set an Bewältigungsstrategien

Auch in Zukunft werden die hier vorgestellten Konzepte weiterhin relevant sein – oft unsichtbar, weil sie mittlerweile tief in unser gesellschaftliches Verständnis integriert sind. Diese moderne Bewältigungsstrategien gegen Katastrophen haben sich seit dem Ende des 18. Jahrhunderts auf nationalstaatlicher Ebene herausgebildet und wirken bis heute. Deshalb ähneln sich die Reaktionsmuster in vergleichbaren Ländern. 

Vor rund vierzig Jahren hat Aids die Schweizer Gesellschaft verunsichert und in der Folge verändert. Das neue Wissen um das Virus, aber auch die daraus resultierende Unsicherheit führten zu einem neuen Risikomanagement, in der Selbsthilfe eine grössere Funktion innehat. Die Krankheit konnte vom Staat oder der Pharmaindustrie nicht allein bewältigt werden. In der Schweiz spielt die Aids-Hilfe Schweiz seit ihrer Gründung im Jahr 1985 eine zentrale Rolle in dieser Vermittlung zwischen Betroffenen und der Öffentlichkeit. 

Die globale Dimension von HIV

Heute wie damals lässt sich die HIV-Problematik nicht auf nationale Grenzen beschränken. Historische Forschungen zeichnen einerseits die koloniale und postkoloniale Dimension der Krankheit auf. Anderseits werden auch in Zukunft potenzielle Gefahren in der globalisierten Welt grenzüberschreitend sein, wie uns Corona wieder deutlich vor Augen geführt hat. Dies wirkt sich potenziell auf eine Diskriminierung und Stigmatisierung von Menschen mit HIV aus. Nach wie vor gilt es, Wissen und Information an die Bevölkerung zu bringen, um Vorurteile zu bekämpfen. Diese stehen am Ursprung und führen dazu, dass Menschen mit HIV um ein Vielfaches stärker von psychischen Belastungen betroffen sind als die Allgemeinbevölkerung. Mit dieser Sachlage sieht sich die Aids-Hilfe Schweiz auch nach vierzig Jahren weiter konfrontiert.

Soziale Verantwortung für die Gesundheit gefordert

So sieht die Aids-Hilfe Schweiz die Herausforderungen weiterhin beim Zugang zu Präventionsmaterialien sowie von Tests und Gesundheitsdienstleistungen. Dies gilt insbesondere für Sexarbeitende, trans Personen, Menschen mit Bezug zu Hochprävalenz-­ländern sowie Männer, die Sex mit Männern haben. Sie haben oft eingeschränkten Zugang zu den notwendigen Ressourcen und sind daher einem höheren Risiko für HIV und andere sexuell übertragbare Infektionen ausgesetzt. In der Schweiz wie anderswo erschweren hohe Preise den Zugang zu rechtzeitigen Diagnosen und Präventionsmass­-nah­men, insbesondere für einkommensschwache und marginalisierte Gruppen.