HIV und schwule Sexualität – eine Retrospektive
Im Jahr 1982 wird Aids auch in der Schweiz langsam zum Medienthema. Die Zeitungen zögern nicht, zu hetzen: Die «Schwulensuche» suche die Schweiz heim. Die Epidemie wird sofort moralisiert und als Problem dargestellt, das nur Schwule, Drogensüchtige und Obdachlose betrifft – nicht als medizinische Krise (Aebersold 2020, 3; Ostertag 2008–2013). Wo die Medien eine regelrechte Hetzjagd gegen Schwule und Betroffene von Aids betrieben, herrschte hinter den Kulissen wohl eine Mischung aus Panik und Apathie. Obwohl der erste Fall im Jahr 1980 gemeldet wurde, verstrich noch ein halbes Jahrzehnt, bis das BAG eine Strategie gegen die Ausbreitung des Virus beschloss (Aebersold 2020, 4).
Cyril Hafen, Ethnologe aus Zürich
Während Behörden, Kirchen und soziale Organisationen noch hilflos nach einer Lösung, einem Heilmittel oder gar nur einer praktischen Testmethode suchten, lebten Jean und Rolf, die heute in ihren frühen Sechzigern sind, ihre Homosexualität noch nicht offen. Welchen einschneidenden Einfluss HIV und Aids auf ihr Leben haben würde, ahnten die beiden zu dieser Zeit noch nicht. Beide wussten bereits von Aids und glaubten, durch die Medien fehlgeleitet, dass es eine Folge von Homosexualität sei. Beide sprechen davon, dass die durch die Aids-Pandemie noch weiter aufgeheizte Homophobie ein grosser Grund war, nicht offen als schwuler Mann zu leben.
Anfang der 1990er outeten sich beide bei ihren Freunden und fanden Halt und Liebe in der Zürcher Schwulenszene. Schon kurz darauf erhält Jeans erster schwuler Schwarm und seine erste schwule Vertrauensperson eine positive HIV-Diagnose. Trotz dem positiven HIV-Status gehen die beiden eine Beziehung ein. «Man kann ja auch auf andere Arten miteinander zärtlich sein.» Doch sein Freund stirbt bald, wie viele in seinem Umfeld.
Jean sagt heute, dass sein Tod zwar tragisch war, er aber zum Zeitpunkt seines Ablebens bereits damit abgeschlossen habe. Dies sei häufig der Fall gewesen. Ein gewisser Fatalismus, ein von Galgenhumor geprägter Umgang mit dem Tod herrschte vor. «Man hatte Sex an der Klappe [...] oder an der Autobahnraststätte. Natürlich konnte man infiziert werden, aber einsam zu sein, wäre ja noch schlimmer.»
Jean reagiert auf diese Tragödie mit Aktivismus. Er möchte eine Gegenöffentlichkeit schaffen, in der HIV und Aids nicht mehr stigmatisiert werden, gleichzeitig aber auch Verhaltensweisen gefördert werden, welche die Verbreitung von Aids unterbinden sollen. Dieses Spannungsfeld zwischen Emanzipationsbemühungen und effektiver Aids-Prävention ist zu jener Zeit in linken, schwulen Kreisen das Hauptthema. Er setzt sich im Spot25 und im schwulen Programm des Radio LoRa für konsequente Kondomnutzung ein. Er betreut Kranke im Zürcher Lighthouse. Jean will weiter lieben und mit seinen Liebsten im Bett sein, und er will dasselbe für seine Community.
Rolf fühlt sich währenddessen vor allem in der Zürcher Lederszene daheim. Dort sind Kondome verpönt, der Sex ist freizügig, hart und oft anonym und das Thema Aids wird «einfach totgeschwiegen». Rolf denkt noch wenig über HIV nach, als sein Partner – nur knapp ein halbes Jahr nach seinem Outing – unerwartet im Bett stirbt. Der Dorfarzt liegt falsch; es war kein Pfeiffersches Drüsenfieber.
Rolf reagiert mit sexueller Enthaltsamkeit. Der Tod seines Geliebten war und ist traumatisch. Die Lederszene zeigt sich bestürzt, doch die weitverbreitete Ablehnung gegenüber Kondomgebrauch führt zu Rolfs Ausstieg aus der Szene. Halt findet er damals vor allem in der reformierten Kirche, die zu jener Zeit einen rasanten Sinneswandel vollzieht in Bezug auf Homosexualität, von Verdammung zu Akzeptanz. Wo Jeans Erfahrungen mit Aids zu einer stärkeren Bindung zur queeren Community führten, zog sich Rolf jahrelang zurück und datete nicht mehr, die Angst vor weiterer Trauer war zu gross.
Welche Auswirkungen hatte die HIV-Epidemie in ihrer schwersten Phase auf Orte schwulen Begehrens? Pippo, der seit den 90ern in einer Zürcher Schwulensauna arbeitet, hat eine klare Antwort: kaum welche. Die Nachfrage nach anonymem Sex sei nie verschwunden, denn «der menschliche Sexualtrieb ist mächtig. Der ist quasi grösser als die Furcht vor einer Ansteckung.» Die Saunen reagierten mit Informationskampagnen und mit Gratiskondomen. An Gästen fehlte es nie.
Die erste Hoffnung für Betroffene kam mit Retrovir im Jahr 1988, der ersten antiretroviralen HIV-Therapie. «Was wirklich alles verändert hat, war dann das Aufkommen von HAART in den späten Neunzigern», sagt Rolf. «Mit dem Aufkommen von HAART verlor ich irgendwann auch die Scham und diese elende Angst, die mich beim Sex immer begleiteten. Ich hatte wieder Lust aufs Daten.» Mit HAART, der Kombination von antiretroviralen Medikamenten und Proteaseinhibitoren, war es erstmals möglich, die Virenlast bei Menschen mit HIV so weit zu senken, dass das Virus im Blut nicht mehr nachweislich und damit nicht mehr übertragbar ist. So liessen sich die Übertragungen pro Jahr auf unter tausend senken und Aids wurde zunehmend behandelbar.
Während Jean und Rolf Augenzeugen der härtesten Zeiten der Epidemie waren, erkrankte Tom in dieser neuen Phase der Pandemie: Er steckte sich Ende 2003 mit HIV an, wusste aber, jung und ungeoutet, kaum etwas über das Virus. «Das Thema war medial fast nicht mehr präsent, und in meinem kleinen Dorf hat darüber niemand gesprochen», erzählt er. Die Diagnose löste Panik aus, doch er hatte schnell Zugang zu einer HIV-Therapie und ist heute undetectable.
Rückblickend ist er glücklich, wie wenig HIV sein Leben dank moderner Therapien beeinflusst hat. «Ich führe ein ganz normales, glückliches Sexleben. Alle meine Freunde wissen meinen HIV-Status und sind unglaublich unterstützend.» Er erzählt von grosser Solidarität, die er in der Schwulenszene erlebt hat. Doch Vorurteile existieren nach wie vor, er hat bereits oft im Ausgang Anfeindungen erlebt. Tom sieht im heutigen Umgang mit HIV eine Ambivalenz: «Es ist gut, dass HIV keine grosse Sache mehr ist. Aber wenn man darüber spricht, merkt man, dass viele immer noch nicht oder nicht mehr gut informiert sind.»
Ein neuerer Wendepunkt war PrEP: Seit 2012 zugelassen, schützt es HIV-negative Menschen fast vollständig vor einer Infektion. In der Schweiz ist es seit 2020 verfügbar und beliebt. Doch Rolf ist kritisch: PrEP könnte zu mehr Risikobereitschaft führen und andere sexuell übertragbare Infektionen begünstigen. Zudem: PrEP ist ein radikaler Wechsel im Narrativ. Wo Ende der 90er noch «Denk mal mit dem Kopf, kein Seitensprung ohne Präservativ» das Gebot der Stunde war, ist heute der Entscheidungsprozess, ob man ein Kondom benutzt oder nicht, komplizierter.
Der wichtigste Hemmfaktor für PrEP war lange der Preis – noch vor einigen Jahren kostete die tägliche Einnahme rund 2500 Franken pro Jahr. Ab Juli 2024 übernimmt die Krankenkasse die Kosten, was die Nutzung erleichtern dürfte. Dennoch bleiben Hürden, besonders für undokumentierte oder ungeoutete Queers.
In der heutigen Zeit ist HIV keine tödliche, sondern eine chronische Infektion. Dank des unermüdlichen Einsatzes der Aids-Hilfe Schweiz, der solidarischen Zivilgesellschaft und der queeren Community konnte sich die epidemiologische Situation massiv bessern. Die Zukunftsprognosen der Gesamtgesellschaft sind positiv: Die NZZ prophezeite bereits vor fünf Jahren das «Ende von Aids». Der Bund erwartet keine Neuinfektionen bis im Jahr 2030, die langen Jahre, in denen die Sexualität schwuler Männer durch Aids beeinträchtigt wurde, könnten bald der Vergangenheit angehören (Hossli & Mora 2012).
Rolf resümiert: «Es war eine schlimme Zeit. Wir haben sie überlebt – also wir als schwule Gemeinschaft. Das haben wir auch nur geschafft, weil wir zusammenhielten und die Hoffnung nie aufgaben, dass bessere Tage kommen werden.»