Imperialismus oder Zusammenarbeit? Widersprüche der internationalen Aidshilfe Peter-Paul Bänziger, Historiker an der Universität Basel
Nicht nur in den Medien ist bezüglich der Geschichte von Aids und HIV in der Schweiz und anderen westeuropäischen Ländern gerne von einem »Modellfall« die Rede. Seit der Mitte der 1980er Jahre seien hier vorbildliche Präventionsansätze entwickelt worden, die andere Regionen möglichst übernehmen sollten. Doch wie beurteilen die Menschen aus den betreffenden Ländern selbst die internationale Aidshilfe? Gespräche mit Aktivist:innen aus der Türkei zeichnen ein kritisches, aber auch widersprüchliches Bild.[1]
Peter-Paul Bänziger, Historiker an der Universität Basel
Viele Aidshilfeorganisationen der ersten Stunde seien von Gesundheitsfachleuten initiiert worden, erklärt Tuğrul Erbaydar, Arzt und Gründungsmitglied von AİDS Savaşım Derneği (Verein für den Kampf gegen Aids). Erst in einem zweiten Schritt sei man zur Einsicht gelangt, dass man mit den Betroffenen zusammenarbeiten müsse. Einen wichtigen Anstoss hierzu hätten die Weltgesundheitsorganisation und die EU gegeben. Dieser positiven Einschätzung der internationalen Zusammenarbeit in den Anfangsjahren stellt er seine Erfahrungen ab der Mitte der 1990er Jahre gegenüber. Damals hätten von der EU geförderte Projekte mit grossen Budgets die Aidshilfe in der Türkei zu dominieren begonnen:
»Persönlich bin ich überzeugt, dass so grosse Projekte grossen Schaden erzeugen. […] An der Spitze dieser und ähnlicher Organisationen stehen Akademiker:innen mit wissenschaftlicher Perspektive oder Teams, die ihren Lebensunterhalt ausschliesslich über die Akquise von Projekten verdienen. […] Sie arbeiten also entlang von Möglichkeiten für Projekte – und das sind dann immer grosse Projekte. Das ist nichts Schlechtes, aber es gibt eine Projekt-Professionalität, die daraus resultiert.«
Zugleich betrachtet Erbaydar die Projektförderung als »Manipulationsmechanismus«: »Beispielsweise ist eine der Bedingungen, dass es partnerships gibt. Pro forma geht es um Zusammenarbeit. Aber das ist eine Lüge. Es heisst: ›Du solltest allein gar nichts machen.‹ Denn wenn du allein etwas auf die Reihe kriegst, befreist du dich noch. Und Befreiung ist nicht der Zweck. Der Zweck ist, dass du dich an die EU bindest. In diesem Zusammenhang äussert sich das Handeln der Europäischen Union als eine Art des Imperialismus. […] Was ist denn nach all den Projektpartnerschaften entstanden? Verfügen wir in unseren wissenschaftlichen Netzwerken über stärkere Beziehungen? Nein.«
Das Gespräch mit Erbaydar wurde im Rahmen eines Forschungsprojekts zur Rolle des Aktivismus in der Geschichte der europäischen Aidshilfe geführt, das auf fünf Fallstudien zur Türkei, zu Polen, Grossbritannien, Deutschland und zur gesamteuropäischen Ebene basierte. Eines unserer Ziele war, die in Begriffen wie Modellfall oder »best practice« mitschwingende westeuropäische Perspektive auf die Vergangenheit und Gegenwart der Aidsarbeit zu überwinden. Dennoch stellt sich die Frage, inwiefern es sich nicht auch bei unserem Vorhaben um eines jener Projekte handelte, von denen Erbaydar spricht.
Auch bei uns legte die EU als Finanzgeberin grossen Wert auf Partnerschaften mit lokalen Organisationen und Personen. Die Zusammenarbeit wurde jedoch durch die unterschiedlichen Interessen erschwert. Unserer wissenschaftlichen Perspektive standen die starke Praxisorientierung und die alltäglichen Probleme der Partnerorganisationen in der Türkei gegenüber. Allerdings hatte die Zusammenarbeit auch positive Aspekte für beide Seiten: Indem unsere Gesprächspartner:innen ihre Geschichten erzählten, wobei die meisten explizit auf eine Anonymisierung verzichteten, intervenierten sie in den Deutungskampf um die Vergangenheit und Gegenwart der Aids- bzw. Gesundheitspolitik in der Türkei, den sie gegen die Regierung führten. Der Anstoss zur Veröffentlichung der Gespräche kam denn auch von ihnen.
Ein weiterer Faktor sind die unterschiedlichen Zeithorizonte. Die Projektlaufzeit, die normalerweise wenige Monate oder Jahre beträgt, entspricht weder der Langfristigkeit des Kampfes gegen Aids noch der Kurzfristigkeit konkreter Problemlagen: Man arbeitet zu Themen, für die es Geld gibt, und nicht notwendigerweise zu jenen, für die man sich am kompetentesten fühlt, am meisten interessiert oder die man als prioritär betrachtet. In den Worten der Kurdin, Alevitin, trans Person, Sexarbeiterin und Aktivistin Buse Kılıçkaya: »Ich will jetzt keine Namen einer Person oder eines Vereins nennen. Aber ich habe bei einem der Treffen auch Äusserungen gehört wie: ›Wenn es nur ein paar mehr HIV-Positive gäbe, könnten wir da ein Projekt bekommen.‹ Insofern gefällt mir ein solches Arbeiten nicht. Ich finde, dass viele Organisationen da kein ernsthaftes Interesse haben.«
Problematisch ist die Projektorientierung nicht zuletzt, weil die Grundfinanzierung in vielen Bereichen des Sozial- und Gesundheitswesens ungenügend ist oder gar zurückgeht. Das betrifft nicht nur die Türkei, sondern auch viele andere Länder inklusive der Schweiz. In die Bresche springen internationale Organisationen, aber auch Stiftungen und andere private Geldgeber, die lieber tolle Projekte als die Löhne der Administration bezahlen und deren Interessen sich rasch wandeln können.
Canberk Harmancı vom Istanbuler Pozitif Yaşam Derneği (Verein Positives Leben) erzählt: »Insbesondere seitdem die Türkei zu den G20-Ländern gestossen ist, sagen viele Geldgeber:innen: ›Ihr seid jetzt ein Industriestaat, deswegen gehört ihr nicht mehr zu unserer Zielgruppe.‹ In der Folge ziehen sie ihre Unterstützung ab. Auch in der Arbeit ausländischer Vertretungen hat es eine thematische Verschiebung gegeben. Sexuelle Gesundheit gehört nicht mehr zu den Prioritäten.« Angesichts der politischen Lage in der Türkei gehe es stattdessen »eher um Demokratie, Pressefreiheit oder die Bewahrung von Lebensgrundlagen.«
Nicht von der Hand zu weisen sind auch die mit dem Stichwort Imperialismus angesprochenen geopolitischen Aspekte internationaler Gesundheitsprogramme. Wenn Erbaydar darauf hinweist, dass sie oft mit der Migrationspolitik verknüpft sind, lehrt er uns genau hinzuschauen, welche offenen und versteckten Interessen mit Geldflüssen verbunden sind: »Ich meine, ist es etwas Schlechtes, dass Familienplanung oder Verhütungsmethoden dort ankommen? Nein, das ist es nicht. Das ist etwas Gutes, aber das Drehbuch für die Zusammenarbeit internationaler Institutionen mit kleinen lokalen NGOs ist doch ein anderes, nicht der Nutzen für die Frauen vor Ort. Ein anderer Nutzen steht im Hintergrund. Wenn internationale Projekte also auf diese Weise gestrickt sind – und ich denke, dass sie alle so gestrickt sind –, sehen wir doch, dass es neben einer sinnvollen Arbeit an einem bestimmten Punkt langfristig auch zu negativen Folgen kommt.«
Schliesslich wird oft zu wenig gefragt, unter welchen Umständen ein Ansatz vorbildhaft sein kann. Es gibt kaum je Programme, die ohne Weiteres auf andere Orte, Gruppen oder auch Zeiträume übertragen werden können. Stattdessen sollten wir danach fragen, inwiefern gerade die Vielfalt und Widersprüchlichkeit lokaler Herangehensweisen die Basis für eine zukünftige Gesundheitspolitik liefern kann. Wie die internationale Zusammenarbeit auf Augenhöhe aussehen kann und welche Hürden dabei zu überwinden sind, beschreibt Kemal Ördek, ehemalige Sexarbeiterin und Mitbegründerin von Kırmızı Şemsiye Cinsel Sağlık ve İnsan Hakları Derneği (Roter Regenschirm. Verein für sexuelle Gesundheit und Menschenrechte) in ihrer Beschreibung des Global Network of Sex Work Projects (NSWP):
»Es gibt ein board mit zwei Vertreter:innen von jedem Kontinent und die Arbeitsschwerpunkte sind oft Asien, Afrika, Latein- oder Südamerika. Es ist also keine Western perspective, die dort dominant ist. Weil die NSWP eine Dachorganisation von Sexarbeiter:innen-Initiativen aus allen möglichen Ländern ist, wird dort ein horizontaler Repräsentationsansatz verfolgt. Ich habe da keine Befürchtung, dass es eine Western imposition geben könnte.« Hingegen gebe es »bei der WHO, bei UNAIDS und solchen Institutionen im Allgemeinen so eine Western perspective. In vielerlei Hinsicht stehen sie beispielsweise der Sexarbeit feindlich gegenüber. Das begründen sie dann mit Western Argumenten oder sie sagen beispielsweise: ›Muslimische Sexarbeiter:innen, wie kann das sein? Muslimisch-Sein und Sexarbeit, das geht doch gar nicht zusammen‹ […]. Es gibt solche und ähnliche orientalistische Aussagen. Naja, und dann erzählen wir.«
[1]Abgedruckt sind die Gespräche in: Zülfukar Çetin & Peter-Paul Bänziger (Hg.): Aids und HIV in der Türkei. Geschichten und Perspektiven einer emanzipatorischen Gesundheitspolitik. Gießen: Psychosozial-Verlag 2019.