Was die Diagnose HIV mit einem macht
Einen positiven HIV-Test zu akzeptieren ist ein Prozess. Einfach ist das für kaum jemanden. Hat man HIV aber einmal als Teil seines Lebens akzeptiert, kann das sogar befreiend sein. Viele Betroffene gewinnen eine Community, eine neue Selbstwertschätzung und eine frische Perspektive aufs Leben.
Santina Russo. Wissenschaftsjournalistin
Für viele ist es das Schlimmste, was ihnen hätte passieren können. Alles bricht zusammen und sie sehen sich schon sterbend. Andere sind erleichtert – weil endlich die Unsicherheit und der Stress mit dem Testen ein Ende haben. Wieder andere können die Diagnose zunächst gar nicht glauben. «Wie Menschen auf HIV reagieren, ist sehr individuell», sagt Flavian Ruff, Oberarzt beim Checkpoint Zürich. Wer die Checkpoints nicht kennt: Die Gesundheitszentren in sechs Schweizer Städten sind spezialisiert auf die medizinische und psychologische Betreuung von MSM und trans Personen mit HIV. Ruff und seine Kolleg:in-nen erleben immer wieder, wie Menschen mit einem positiven HIV-Test umgehen müssen. Was macht das mit einem und wie akzeptiert man seinen HIV-Status? Einige gemeinsame Dinge lassen sich feststellen. Zum Beispiel, dass es zumindest zum Teil hilft, wenn Betroffene schon zuvor gut über HIV informiert waren, sagt Flavian Ruff. «Wenn sie etwa wissen, dass die Infektion behandelbar ist. Und dass man unter erfolgreicher Behandlung auch als Mensch, der mit HIV lebt, das Virus nicht weitergibt – und ein normales, langes Leben mit einem unbesorgten Sexleben führen kann.»
Von Selbstvorwürfen bis Verdrängung
Das Wissen um die medizinischen Fakten ist aber nur das eine. «Hinzu kommt eine starke psychologische Komponente», sagt Dominique Emch, Oberpsychologin beim Checkpoint Zürich. Viele haben Schamgefühle oder machen sich intensiv Selbstvorwürfe, etwa, weil sie fremdgegangen sind oder schwulen oder ungeschützten Sex hatten. Auch Claudia Langenegger kennt diese Scham- und Schuldgefühle. Die 51-jährige Journalistin und Illustratorin aus Bern lebt seit August 2023 mit HIV. «In mir drin tobte ein Wirbelsturm aus Selbstvorwürfen, Schuldgefühlen und Scham. Die Diagnose bringt dich an einen unfassbar verzweifelten Ort, von dem du gar nicht gewusst hast, dass es ihn in dir drin gibt.» Durch die negativen Gefühle sich selbst gegenüber sei es schwierig, den eigenen HIV-Status zu akzeptieren, selbst wenn den meisten rasch klar ist, dass es ihnen mit der Behandlung weiterhin gut gehen wird, sagt Psychologin Dominique Emch. «Die negativen Gefühle können auch dazu führen, dass sich Betroffene sozial isolieren. Oder dass sie vermehrt Chemsex praktizieren, also Sex auf Crystal Meth, Mephedron oder GHB / GBL haben, um ihre Schamgefühle zu verdrängen – und von den Drogen abhängig werden.» Manchmal geraten Betroffene in eine Spirale aus Schuldgefühlen, Abhängigkeit und Depression, bis hin zu Suizidgedanken. Ebenso gibt es Menschen, die das positive Testresultat zuerst verdrängen. Manche tauchen ab – und kommen manchmal erst mit psychsichen Problemen wieder hoch. Am schlechtesten geht es Betroffenen, die neben HIV andere Probleme haben. Zum Beispiel schwule Männer, die Chemsex praktizieren und von den Drogen abhängig sind. Oder Personen, die nicht geoutet sind und dadurch zusätzlichen psychischen Stress haben. Oder auch Menschen, die in der Schweiz keine Aufenthaltsbewilligung haben. «Manche tauchen ab - und kommen manchmal erst mit psychsichen Problemen wieder hoch.» Der Checkpoint betreut zudem einige ältere Personen, die die Diagnose in den 1980er-Jahren erhalten haben. «Damals war HIV ja noch ein Todesurteil», sagt Oberarzt Flavian Ruff. Viele Betroffene konnten sich lange keine Zukunft vorstellen – Ersparnisse für das Alter wurden deshalb oft nicht aufgebaut. Zudem sprach man ihnen automatisch eine Invalidenrente zu, was auch hiess, dass sie nicht mehr arbeiten durften. Wer überlebt hat, lebt heute zum Teil in finanziell schwierigen Verhältnissen.
Stigma Sex, Stigma HIV
Was bei alldem dazukommt: Bei sich selbst HIV zu akzeptieren, ist häufig gemischt mit der erwarteten Akzeptanz im Umfeld. Und hier schwingt allzu häufig das moralische Stigma mit, das mit Sex verbunden ist. Claudia Langenegger sagt: «Ich habe mich zwar nicht wirklich geschämt, aber hatte trotzdem das Gefühl, dass ich niemandem von meinem HIV erzählen kann.» Ein halbes Jahr lang führte sie ein Doppelleben und erzählte niemandem von ihrer Diagnose. Die Angst, verurteilt zu werden, war unbegründet, wie sie später merkte, aber trotzdem dominant. «Frei und selbstbestimmt Sexualität zu leben, ist in der Gesellschaft immer noch nicht akzeptiert, und das hat Folgen.» Dieses Stigma, das mit Sex verbunden ist, macht Angst vor negativen Reaktionen im Umfeld. Und es hat direkte medizinische Auswirkungen, wie Studien zeigen: Wer aufgrund von HIV stigmatisiert ist, wird eher sozial isoliert, depressiv und kann Schwierigkeiten bei der regelmässigen Medikamenteneinnahme haben. Das beobachten auch die Fachleute beim Checkpoint. Gerade Männer mit HIV, die nach aussen hin hetero-, aber versteckt homosexuell leben, haben manchmal Schwierigkeiten ihre Medikamente regelmässig einzunehmen, weil sie auch diese geheim halten wollen. «Schon der Gedanke, dass vom Umfeld Fragen zur Tablette kommen könnten, löst bei manchen grosse Angst aus», sagt Dominique Emch. Auch trans Menschen oder Männer, die Chemsex praktizieren, sind gefährdet, die HIV-Medikamente nicht richtig einzunehmen. Emch hat auch Patienten, die nach ungeschütztem Sex die HIV-Postexpositionsprophylaxe, kurz HIV-PEP, verweigern – weil sie nicht als diejenigen gelten wollen, die mit allen und jeden ins Bett gehen. «Frei und selbstbestimmt Sexualität zu leben, ist in der Gesellschaft immer noch nicht akzeptiert, und das hat Folgen», sagt die Psychologin. Claudia Langenegger hat selbst erlebt, wie gross bei HIV der Kontrast zwischen medizinischen Fakten und psychosozialer Wirklichkeit ist: Medizinisch ist HIV bei rechtzeitiger Diagnose kein Problem mehr, aber in der Gesellschaft ist das neue, positive Bild noch nicht angekommen. «HIV ist nach wie vor mit unserem gesellschaftlichen Trauma von Aids verbunden, mit emotionalen Bildern von Tod und Katastrophe», sagt Langenegger. Das macht die HIV-Diagnose für Betroffene schwieriger, als sie sein müsste.
Neue Perspektiven durch ein Leben mit HIV
Generell gilt aber: «Wer stabil im Leben steht, kann die Diagnose nach einer Anpassungszeit oft akzeptieren», sagt Emch. In der Beratung helfen die Checkpoint-Fachleute ihren Patient:innen, die Schuldgefühle und individuellen Probleme vom Umgang mit der Infektion und der neuen Lebenssituation zu entflechten. Und schliesslich: HIV als Teil der eigenen Lebensgeschichte zu verstehen und zu akzeptieren. Auch Claudia Langenegger hat psychologische und Peer-to-Peer-Beratung geholfen. «Vor allem ein Satz hat mich aus meinen tiefen Selbstvorwürfen geholt: ‹Es ist einfach dumm gelaufen›.» Um HIV zu akzeptieren, brauchte sie aber viel Zeit, Selbstfürsorge, Unterstützung aus der Community und die Gewissheit, dass sie von ihrem Umfeld nicht zurückgewiesen wird. «Du musst lernen, dich voll und ganz zu akzeptieren und dein innerstes Ich gern zu haben.» Heute sieht sie ihr HIV als Geschenk: «Ich habe dank HIV einen sehr heilsamen psychologischen Prozess durchgemacht und wunderbare Menschen kennengelernt, die ich in meinem Leben nicht missen möchte.» Manche der Checkpoint-Klient:innen haben sich zuvor ihr Leben lang für ihre Sexualität oder ihre Geschlechtsidentität geschämt. «Durch HIV haben sie einen Weg gefunden, sich selbst treu zu sein und sich wertzuschätzen. Und sie fühlen sich als Teil einer Community, die schon viel überstanden und überlebt hat.» Viele hören nun besser auf ihren Körper, kümmern sich um sich selbst und erleben eine frische, sehr positiv empfundene Selbstwirksamkeit. Manche achten neu mehr auf ihre Gesundheit, auf zwischenmenschliche Beziehungen oder auf persönliches Wachstum. «Wenn man es schafft, sich mit der eigenen Verletzlichkeit positiv auseinanderzusetzen, kann das total wertvoll und stärkend sein.»