Wer sich an den Rand stellte, fiel aus der Mitte
Als vor über vierzig Jahren das HI-Virus die Welt in Panik versetzte, war das Unwissen riesig. Viele Mythen über potenzielle Übertragungsgefahren führten zu Stigmatisierung und Ausgrenzung. Die Menschen, die sich solidarisch auf die Seite von Aids-Erkrankten stellten, merkten schnell, dass das Problem grösser als ein nanometerkleines Virus war. Es war eines, das die ganze Gesellschaft betraf.
Andi Giger, freier Journalist aus St. Gallen
Pietro Vernazza war frischer Assistenzarzt in Sursee, als der Chefarzt vor ihm seine Ärmel über die Hände zog und so vorsichtig die Türe öffnete. Im Einzelzimmer lag ein Patient mit Lungenproblemen und Geschwüre am Körper. Obwohl es Anfang 1984 noch keine Tests dafür gab, war es von der Symptomatik klar: Der Patient hatte Aids. Es war das erste Mal, als Vernazza einem Aids-Patienten begegnete. Der Chefarzt, der sonst immer allen die Hand schüttelte, vermied jede Berührung mit dem Patienten. Vernazza war irritiert, denn der damalige Wissensstand war bereits, dass HIV eine sexuell übertragbare Krankheit ist und nicht durch Händeschütteln übertragen werden konnte. Und auch das Einzelzimmer: Der Patient war weder privatversichert noch eine Gefahr für andere im Raum. Er überlebte seine Krankheit nicht. Sein nächster Chefarzt in St. Gallen unterstützte Vernazza und ermutigte ihn, den Umgang mit sterbenden Menschen zu lernen. Vernazza erinnert sich: «Ich merkte, dass das Thema Tod auch interessante Seiten hat und wie es wertvoll ist, den Geschichten mit Neugier zu begegnen.» Es helfe, die Probleme nicht zu seinen eigenen zu machen.
Insektenstiche, Umarmungen oder öffentliche Toilettensitze: Eine Zeit lang schien fast alles ein HIV-Risiko zu sein. Die Angst war allgegenwärtig. Allmählich machte die Wissenschaft Fortschritte, doch das Unwissen hielt sich noch über Jahre. Bei all dem Elend gab es Menschen, die sich nicht von der Angst leiten liessen. Menschen, die sich trauten, Aids-Erkrankte anzufassen, ihnen Mut machten oder wenigstens ein würdevolles Ableben ermöglichten. Oft waren es Krankenschwestern, Lesben, Aktivist:innen, Familienangehörige und Menschen aus der Kirche.
Maisbrötchen essen im Ambulatorium
Margit Bösch ist eine Ordensschwester der St.Anna-Gemeinschaft und hatte als ausgebildete Krankenschwester das Wissen, dass während der Epidemie äusserst wertvoll war. Sie arbeitete neu im Ambulatorium der kirchlichen Gassenarbeit Luzern, als sie ihre erste Begegnung mit einem an Aids erkrankten Menschen machte. Der Mann war ungefähr 1.90 Meter gross, dünn, hatte verschwitztes Haar, er war ungepflegt. Man nannte ihn randständig, einen «Drögeler». Jeden Morgen kam er vorbei, um dort sein Maisbrötchen zu essen. Er pickte sorgfältig die Rosinen aus dem Teig und – so machte er es bis anhin immer– schwieg. Ausser an jenem Morgen. «Willst du auch?», er schaute Bösch an. «Gerne.» Er brach ihr ein Stück ab und gemeinsam assen sie das Brötchen. Es war der Anfang einer aussergewöhnlichen Verbundenheit.
Vernazza und Bösch mussten schnell erfahren, was es bedeutet, wenn man sich auf die Seite von Aids erkrankten Menschen stellt: Man wurde selbst Aussenseiter:in. Vernazza wurde gar das Blutspenden verweigert. Die Angst, sich anzustecken war riesig. «Das war komplett irrational. Selbst im Gesundheitswesen blieb das gesellschaftliche Unwissen bestehen», so Vernazza heute. Als er Vater wurde, stattete eine gute Bekannte von ihm – sie lebte mit HIV – der frischen Familie einen Besuch ab. Auf die Frage, ob sie denn das Baby auch mal halten wolle, reagierte sie erstaunt und mit der Frage, ob das nicht gefährlich sei. Sie wäre selbst gerne Mutter geworden. «Schuldgefühle und der Glaube, eine Gefahr für andere zu sein, begleiteten viele Menschen mit HIV. Die Angst bei Menschen mit HIV, das Virus auf andere zu übertragen war oft grösser als die Angst vor HIV bei Menschen ohne HIV», sagt Vernazza. Die ganze Welt machte sie zur Bedrohung, obwohl die Wissenschaft längst besänftigen konnte und gar Hoffnung machte.
Neue Dringlichkeiten
«Es war damals die Not der Zeit», erinnert sich Bösch. Die St.Anna-Schwestern gründeten sich 80 Jahre zuvor aus der Not, als Frauen Geburtgehilfen brauchten. Es war die Zeit, in der Klosterfrauen zwar in Spitäler arbeiteten, aber nicht bei Geburten dabei sein durften. Also sind sie zu den Familien nach Hause und halfen dort als Geburtshelferinnen. Und auch Bösch startete ihre Karriere im Operationssaal. Doch in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts wurden Operationen immer technischer, Geburten wurden sicherer, die Not war eine andere. «Ich wollte raus, orientierte mich neu und merkte, dass es mich woanders brauchte.»
Die Menschlichkeit, die Würde aller und der respektvolle Umgang miteinander sind in gewissen Strassen und Parks verschwunden. «Die Polizei machte Befragungen bei Obdachlosen und Suchterkrankten, teils auch Verhaftungen, die nicht gerechtfertigt waren. Die Opfer kannten ihre Rechte oft nicht, sie hatten Angst.» Es war die Zeit der offenen Drogenszenen am Platzspitz, am Letten und in Luzern an der Eisengasse. Die Menschen stahlen, übernachteten an verbotenen Orten und bettelten. «Ich habe nie die Polizei gerufen. Wenn sie es nicht einmal schafften, die kleinsten Fische zu schnappen, war das nicht mein Problem.»
Herausforderungen als einzige Ansprechperson
Vernazza hat die Aids-Sprechstunde am Kantonsspital St.Gallen institutionalisiert. Sie wurde an einem entfernten Ort auf dem Campus angesiedelt – auch das war ein Zeichen der Abgrenzung. «Ich war für viele Patient:innen die einzige Person überhaupt, mit denen sie über HIV sprechen konnten». Das erforderte Kompetenzen, die einem im Medizinstudium nicht beigebracht werden: Gespräche über den Tod oder das Aushalten, dass Heilung nicht möglich ist. «Dabei ist letzteres für viele Medizin-Studis, eine Hauptmotivation: Menschen heilen.» Viele in der Medizin hatten keine besondere Lust auf das Thema. «Das änderte sich, als die Medikation kam. Plötzlich konnten wir etwas dagegen machen, das motivierte.»
Der grosse Mann aus dem Luzerner Ambulatorium wusste, dass er nicht mehr lange leben würde. Seine Zähne waren verfault, im Mund litt er unter Schwerem Soor, er konnte sich kaum noch bewegen. Auch seine beiden Mitbewohner hatten Aids. Den Kontakt zur Familie hatten alle verloren. Sie hatten den Wunsch, noch einmal Weihnachten zu feiern. Mit einem Fondue und einem gemeinsamen Joint verbrachte Bösch Heiligabend bei ihnen zuhause. «Das Joint rauchen hatte in der Community etwas Verbindendes.» Bösch passte sich in vielen Bereichen an, beispielsweise auch in der Sprache. «Ich musste natürlich am Anfang lernen, was ein Flash, Speed oder ein Horror Trip ist.» Auch geflucht habe sie manchmal, sie wollte in ihrer Sprache antworten, passte sich an.
Die drei Aids-Patienten verstarben innerhalb des darauffolgenden Halbjahrs. Auch bei der Beerdigung wurde nochmals einen Joint geraucht. «Das machten wir oft, es war ein gemeinsames Ritual. Alle die wollten, nahmen einen Zug», so Bösch. Beerdigungen waren manchmal aber auch ganz ohne Angehörige, allein sie und Sepp Riedener, der Gründer der Kirchliche Gassenarbeit Luzern, erwiesen den Verstorbenen die letzte Ehre.
Eine Frage der Haltung
Sexarbeiterinnen, Suchterkrankte, Schwule: Dass die Aids-Epidemie vor allem Gruppierungen traf, die der Kirche nicht besonders nahestanden, war für Bösch egal. «Es waren erkrankte Menschen. Ihnen auf Augenhöhe zu begegnen und Hilfe anzubieten war das Wichtigste.» Ein wichtiger Aspekt der Geschichte sei ja immer auch gewesen, dass die Menschen oft gar nicht primär wegen der Angst vor einer möglichen Ansteckung ausgegrenzt wurden, sondern aus Ablehnung gegen ein Milieu. «Es ging mir immer darum, dass man weiss, dass nichts umsonst war. Die Menschen hatten Hoffnung, Ideen und Visionen, sie schenkten Liebe und hinterliessen Spuren – und nichts davon war umsonst.»
In St.Gallen hatte Vernazza es vor allem mit dem Patient:innen aus dem Fixermilieu zu tun. Dass eine wertende Haltung – unabhängig von den herrschenden gesellschaftlichen Normen und Erwartungen – nichts in der Medizin zu suchen hatte, war für den Kampf gegen Aids entscheidend. Es war auch die Grundlage des Vier-Säulen-Modells der Schweizer Drogenpolitik, die zum internationalen Vorbild wurde. «Interesse zeigen, Zuhören und Verständnis entwickeln war eine wichtige Aufgabe der Medizin – und letztlich Teil der Medikation.»