Annette und Tomi: Leben in einer serodifferenten Beziehung
Dies ist die Geschichte von Annette und Tomi. Es ist eine Geschichte von Gegensätzen. Doch die ziehen sich ja bekanntlich an. Es ist aber auch eine Geschichte, in der sich zwei Menschen nicht nur ergänzen, sondern auch füreinander da sind. Die Geschichte von Annette und Tomi ist eine Liebesgeschichte.

Porträt von Moana Mika
Da ist zum einen Annette: Annette hat Temperament. Wenn sie spricht, prasseln Bilder auf einen ein. Immer wieder wirft sie neue Gedanken auf. Und da ist zum anderen Tomi: Tomi ist ein ruhender Pol. Bevor er antwortet, überlegt er und sucht nach den richtigen Worten. Annette hat viele Ideen. Zum Beispiel will sie immer mal wieder den Garten umgestalten. Tomi ist der Macher, der Ausführer. Er nimmt dann die Schaufel zur Hand und setzt um. Annette ist kreativ. In ihrer Freizeit töpfert sie – die selbst gemachten Schalen, Teller und Tassen kommen in der Küche zum Einsatz. Tomi ist gerne draussen. Oft geht er wandern und nimmt dabei den gemeinsamen Hund Milow mit. Noch heute schwärmt Tomi von der einen Wanderung, als er im mystischen Nebel unterwegs war. Und dann ist da auch noch das Virus: Annette lebt seit 36 Jahren mit HIV. Tomi – lebt ohne HIV. «Ich glaube, ich habe ihr einfach schon immer sehr vertraut.»
Annette und Tomi sind herzliche Menschen. In ihrer Küche ist es wohlig warm. Durchs Fenster blickt man auf Ackerfelder, die an einen Wald grenzen. Draussen nieselt es. Die Bäume stehen nackt da, der Grill im Garten ist eingepackt. Zuerst wird Kaffee getrunken. Später tischt Tomi auch noch ein Dessert auf.
Kennengelernt haben sich Annette und Tomi im Sommer 2000 in einer Bar in Zürich. Er habe sich vom ersten Augenblick an zu ihr hingezogen gefühlt, sagt Tomi. «Sie war schon damals eine starke Frau. Das gefiel mir», fügt er an. «Und du warst sehr schüchtern. Hast dich hinter deinem Bruder versteckt, obwohl du grösser warst», erwidert Annette lachend. Tomi lacht mit. Die beiden schauen sich dabei an und in den Augenpaaren glitzert es.
Tomi kann sich nicht mehr daran erinnern, an den Moment, als er erfuhr, dass Annette mit HIV lebt. «Das war mir wohl irgendwie egal», sagt er. Angst, dass er sich anstecken könnte, hatte er nie. «Ich glaube, ich habe ihr einfach schon immer sehr vertraut», sagt Tomi. Annette hingegen hatte Angst. Grosse Angst, wie sie betont, dass sie Tomi anstecken könnte. «Erst um 2006 gab es endlich gute Medikamente, die meine Viruslast unterdrückten. Das war eine unglaubliche Erleichterung. Denn wo kein Virus ist, kann auch keine Ansteckung erfolgen», sagt Annette. Die grosse Erleichterung schenkte den beiden Freiheit: 2007 kommt das gemeinsame Kind zur Welt. «Das Beste, was uns je passiert ist», sagt Annette. Zwei Jahre später zieht die junge Familie aufs Land, in ein Genossenschaftshaus, mit der gemütlichen Küche und dem Blick auf die Felder. «Als wir zum ersten Mal hierhinkamen, haben wir uns wie in den Ferien gefühlt», erzählt Tomi.
Kind, Haus, Garten – für Annette und Tomi ist das alles andere als selbstverständlich. Annette war Ende 20, als sie im Sterbehospiz lag. Gegen ihr HIV gab es zu jener Zeit keine für sie verträglichen Medikamente. «Es war ein Todesurteil», sagt Annette. Aber eben: Annette ist eine starke Frau. Und zusammen mit Tomi fand sie ihren Halt. Tomi wuchs in schwierigen Verhältnissen auf. Familie – das kannte er nicht. Aber eben: Tomi ist ein Macher. Und zusammen mit Annette war plötzlich alles möglich.
Ende gut, alles gut? Nicht nur. Annette hat mit ihrer Gesundheit zu kämpfen. Immer mal wieder muss sie notfallmässig ins Spital. Tomi, der ruhende Pol, ist dabei stets an ihrer Seite. Obschon: «Das letzte Mal, als Annette im Spital lag, meldete meine Smartwatch ‹Ihr Stress-Level hat sich erhöht›», gibt Tomi schmunzelnd zu. Die Angst um Annette ist halt doch immer da. Und noch etwas begleitet die beiden seit jeher: Stigma und Diskriminierung. «Es sind Mikroaggressionen», sagt Annette. Zum Beispiel, wenn sie gefragt werde, wo sie sich angesteckt habe. Auch Tomi hat damit zu kämpfen. Schon zu Beginn ihrer Liebe habe er Diskriminierung erfahren: «Einige Menschen aus meinem Umfeld wollten die Beziehung verhindern», erzählt Tomi. «Du spinnst doch», hätten sie ihm gesagt.
Draussen nieselt es immer noch. Doch Milow, dem Hund, ist das egal – er muss jetzt raus. Tomi seufzt und erhebt sich, Annette räumt das Geschirr weg. Der Hund wedelt vorfreudig mit dem Schwanz. Und worauf freut ihr euch, Annette und Tomi? «Wir werden bald für ein paar Tage nach Paris fahren», sagt Annette. Tomi schaut sie an und neckt: «Ja, und danach hast du sicher wieder Pläne für den Garten.» Die beiden lachen. Und dabei blitzt wieder dieses Glitzern in ihren Augen auf.