Das Band der Verbündeten

Dieser Artikel entstand aus einem Treffen zwischen Catherine Jaccoud und Ted Rota, das wir organisiert hatten. Catherine und Ted leben weniger als 70 Kilometer voneinander entfernt und haben auf den ersten Blick nichts miteinander zu tun, doch sie teilen eine bewegende und intensive Geschichte: Beide haben in den 1990er-Jahren einen nahestehenden Menschen durch Aids verloren. Wir bieten Ihnen einen Artikel zum Gedenken, damit wir nicht vergessen, aber auch ein Interview, das das Leben der Verstorbenen, der Überlebenden, der heute mit HIV lebenden Menschen und ihrer Verbündeten würdigt. Interview von Raphaël Depallens, Aids-Hilfe Schweiz, Fotos: Virginie Rebetez

Die ersten Hinweise auf HIV / Aids

Catherine: Eine Erkenntnis aus New York

"Ich habe 1983 in New York zum ersten Mal davon gehört. Ich war bei meinem Bruder zu Besuch, und er verlor Freunde, ohne wirklich zu wissen, warum. Damals verstand man noch nicht, was vor sich ging. In der Schweiz wurde darüber überhaupt nicht gesprochen. Der allererste Artikel, den ich gesehen habe, war in ‹L’Hebdo›, etwa 1986. Ein kleiner, fast unauffälliger Artikel.

Catherine erinnert sich an eine bedrückende Stille rund um das Thema. „Die Leute verdrängten es. Sie dachten, es betreffe nur Homosexuelle oder Drogenabhängige.“ Doch im Laufe der Jahre, als die Freunde ihres Bruders nach und nach verschwanden, wurde ihr die Realität bewusst. Ihr Bruder, der homosexuell war, hatte die Schweiz verlassen, um in New York zu leben, wo er er selbst sein konnte. „Bei uns war das nicht gern gesehen. Er hatte Piercings, und wenn er zur Ostereiersuche kam, sagte ich ihm, er solle sie nicht zu sehr zeigen. Die Leute waren wegen Kleinigkeiten schockiert. Glücklicherweise hat sich die Mentalität geändert.“

Catherine, Mikes Schwester

Ted: Zwischen Verleugnung und Schock

Ted bewegte sich im Showbusiness. 

"Man begann darüber zu sprechen, aber alles war noch sehr unklar. Ich erinnere mich an einen Freund, der Krankenpfleger im Inselspital in Bern war. Er sagte, das sei totaler Blödsinn, HIV gäbe es nicht, das sei nur, um Schwulen Angst zu machen. Er sagte uns, wir sollten weiter normal leben. Er starb an Aids."

Diese Aussage verdeutlicht die allgemeine Verleugnung, selbst unter Fachleuten im Gesundheitswesen. 

"Wir glaubten ihm, weil er Krankenpfleger war. Also nahmen wir das auf die leichte Schulter. Dann gab es Stars wie Elizabeth Taylor, die anfingen, darüber zu sprechen. Und da sahen wir, wie Menschen starben."

Ein Schweigen, das zu spät gebrochen wurde

Sowohl für Catherine als auch für Ted war HIV/Aids lange Zeit ein Tabuthema, das in der Schweiz fast unsichtbar war. Erst mit der Zeit, den Verlusten und den öffentlichen Stellungnahmen begann sich das kollektive Bewusstsein zu wandeln. „Aids war zwar da, aber uns war das völlig egal“, fasst Ted mit schonungsloser Deutlichkeit zusammen.

Ted und Mike: Die totale Liebe

Eine brutale Offenbarung

"Als ich Mike kennenlernte, deutete nichts auf die Komplexität unserer Geschichte hin. Wir waren drei Monate zusammen, bevor ich etwas davon erfuhr."

Durch eine gemeinsame Freundin erfährt Ted, dass Mike mit HIV lebt: „Sie sagte mir: ‹Sei vorsichtig.› Ich verstand nicht, warum. Dann sagte sie mir, er habe Aids. Ich war schockiert.“ Ted beginnt daraufhin, bestimmte Verhaltensweisen von Mike zu überdenken: Er war beim Sex sehr vorsichtig, er war wirklich eigenartig.“ Eines Abends, als Mike betrunken ist, erhält Ted eine warnende Nachricht von einem befreundeten Taxifahrer. Er geht zu ihm, und Mike erzählt ihm schliesslich von seinem HIV-Status: „Ich war sehr wütend. Ich sagte ihm, er habe mich betrogen.“ Doch nach drei Tagen Schweigen ruft Mike an. Sie reden miteinander:

„Ich liebte ihn so sehr, dass ich bei ihm blieb.“

Ted lässt sich testen. Drei Monate des Wartens, der Angst. Das Ergebnis ist negativ.
„Dann mussten wir mit HIV leben. Wir hatten weiterhin Sex mit Kondom. Wir lebten sieben Jahre zusammen.“

Die Ankündigung

Mike hatte Ted gewarnt: «An dem Tag, an dem du mich im Krankenhaus besuchst und neben meinem Bett ein Toilettenstuhl steht, werde ich gehen.» Dieser Tag kommt. Ted besucht Mike vor einer Dragshow in Österreich. Er sieht den Stuhl. Er will absagen, Mike lehnt ab. «Er sagte mir: ‹Geh hin, es wird nichts passieren.›» Ted geht zur Show. Als er zurückkommt, ruft er im Krankenhaus an, niemand nimmt ab. Er kontaktiert Mikes Onkel. «Er sagte mir: ‹Hat dich niemand angerufen? Mike ist gestern Mittag gestorben.›»

Das Verschwinden

Nach Mikes Tod wird Ted ausgeschlossen. «Ich hatte nie wieder Kontakt zu seiner Familie. Ich wurde nicht einmal in der Todesanzeige erwähnt.» Ein Jahr später kontaktiert ihn Mikes Bruder, um ihn zu fragen, ob er noch einen Totenkopf von Mike hat. Nur Mikes Tante bleibt mit Ted in Kontakt. «Vielleicht tat es ihnen zu weh, mich zu sehen. Aber ich habe es versucht.»¨

Das verbotene Wort

Mit Mike war es unmöglich, über Aids zu sprechen. «Man durfte das Wort nicht aussprechen. Es wurde verschwiegen.» Dennoch war Mike ein sanftmütiger Mann, der stolz auf Ted war, der Shows machte und in den Zeitungen erschien. «Wir verstanden uns sehr gut. Wir haben uns fast nie gestritten.»

Ein Zeichen aus dem Jenseits

Vor seinem Tod hatten Ted und Mike sich versprochen: Wenn einer von ihnen gehen würde, würde er versuchen, dem anderen ein Zeichen zu geben. Mike, der nicht gläubig war, hatte dem stillschweigend zugestimmt. Und dieses Zeichen kam. Eines Tages im November fühlte sich Ted seltsam wohl. Er änderte seine übliche Route beim Spaziergang mit ihrem Hund Magic. Er ging unter einer Allee aus Bäumen hindurch, die alle kahl waren, bis auf einen. Ein einziges Blatt blieb übrig, beleuchtet vom Vollmond. «Es löste sich und fiel auf meine Schulter. Ich spürte eine Hand.» Dieser Moment markierte einen Wendepunkt. «Ich fühlte mich frei. Er hatte mich befreit.»

Eine unvergessliche Liebe

«Ich hatte die grosse Liebe.» Ted spricht auch Jahre später noch liebevoll von Mike. «Wir konnten nicht über Aids sprechen. Das war ein verbotenes Wort. Aber er war ein wunderbarer Mensch.» Heute hat Ted wieder die Liebe gefunden. «Er ähnelt Mike sehr. Er ist stolz auf mich, und ich bin stolz auf ihn.» Aber Mike bleibt präsent. «Ich denke jeden Tag an ihn.

Mike, Teds Geliebter

Catherine und Mike: Die bedingungslose Liebe einer Schwester

Eine unmögliche Rückkehr

Mike ist nach New York gegangen, um seine Homosexualität offen zu leben. Mit 37 Jahren kehrt er in die Schweiz zurück, gerade als Catherine ihre Tochter zur Welt gebracht hat. Er sucht Arbeit und versucht, sich wieder einzuleben. Doch etwas stimmt nicht: «Catherine, kann ich mit dir reden? Ich möchte mich testen lassen.» Aber alles ist kompliziert – Mike hat keine Schweizer Krankenversicherung. Catherine fleht ihren Arzt an, ihm den Test zu ermöglichen. «Er schimpfte mit mir: ‹Sind Sie verrückt?›» Schliesslich erklärt sich Dr. Favre bereit, ihn unentgeltlich zu behandeln. Mike hat Angst – vor dem Ergebnis, vor dem, was es bedeutet. Als das Resultat kommt – positiv –, herrscht Stille. Mike will nicht darüber sprechen. «Ich bin am Ende, es gibt keine Hoffnung», sagt er. Er weigert sich, in der Schweiz zu bleiben. «Er hatte Angst vor den Blicken unseres Vaters, davor, was die Leute sagen würden.» Er kehrt nach New York zurück.

Zwischen Einsamkeit und Würde

Nach New York reist Catherine allein – die Einzige aus der Familie. «Ich wollte nicht, dass er allein ist.» Sie vertraut ihre Tochter ihrer Schwägerin an und spricht kein Wort Englisch. Aber sie geht. Für ihn, ihren Bruder. Bei ihrer Ankunft verlässt Mikes Freund ihn und verschwindet. «Es war die Hölle. Vor allem für ihn. Er hatte Angst.» Mike hustet zwei Jahre lang, wird schwächer, zweifelt, verliert die Orientierung. Er erkennt seine Familie nicht mehr. Catherine muss in der Schweiz anrufen, um zu beweisen, dass sie wirklich seine Schwester ist. «Er sagte: ‹Wollt ihr mir weismachen, dass ich verrückt bin?›» Catherine begleitet ihn durch diese besonders schwere Zeit – ohne Unterstützung. Auch sie wird zum Opfer des Schweigens rund um HIV/Aids.

Mike, Catherines Bruder

Der strahlende Bruder


Mike war der starke grosse Bruder. Derjenige, der ihr die Hand hielt, wenn sie die Strasse überquerten. Derjenige, der sie in den 1980er-Jahren zum Tanzen mitnahm, «derjenige, der auf die Podeste stieg, schön, stolz, frei; die Art von Mann, die man beim Vorbeigehen ansieht», sagt Catherine. Und schliesslich ist es Catherine, die seine Hand hält. Die ihm beim Gehen hilft. Die ihn ins Krankenhaus begleitet.

Die Angst der anderen


Als Catherine in die Schweiz zurückkehrt, erlebt sie eine neue Form der Einsamkeit. Ihr Partner will nicht mehr mit ihr schlafen – aus Angst, sie sei «ansteckend ». Es dauert Tage, bis sie sich wieder traut, ihm nahe zu sein. «Sogar mein Vater wollte nicht, dass ich nach New York gehe. Aber ich bin gegangen.» Sie liess alles zurück: ihre Tochter, ihren Komfort. Um da zu sein. Damit er nicht allein ist. «Ich habe getan, was ich tun musste. Aber dort bist du
trotzdem allein.»

Eine Welt, die leiden lässt

Catherine versteht es nicht. Warum lässt man Menschen so leiden? Warum gibt man ihnen nicht die Möglichkeit, in Würde zu gehen? «Ich dachte, wir leben in einer Welt, in der man uns etwas gibt und wir keine Schmerzen mehr haben. Wie bei Exit.» Aber nein. Man muss durchhalten. Bis zum Ende. Bis der Körper aufgibt. Bis der Geist erlischt.

«Die Liebe ist so stark! Seid solidarisch!»

Ted