Die Fabrik des Schweigens
Beim Verfassen dieses Artikels stellt sich mir die Frage, auf welcher Grundlage ich das Thema überhaupt anschneiden kann. Die ersten sieben Jahre meines Lebens mit HIV waren grossteils geprägt von Schweigen, Kraft- und Energieverschleiss, Verheimlichung, vorauseilenden Ängsten sowie ausnehmend heimtückischen Auswirkungen auf meine psychische Gesundheit. Gerade vor dem Hintergrund dieser Erfahrung und vor allem mit dem Wunsch, andere an meiner Überlegung teilhaben zu lassen, nähere ich mich diesem Thema, nämlich: Sprechen oder nicht, zu sprechen wagen oder nicht, den Raum zum Sprechen haben, die Chance auf Gehör haben, sich selbst gestatten, darüber zu sprechen, das gefühlte oder tatsächliche Risiko des Zur-Sprache-Bringens vorwegnehmen, das Feld der gegebenen Möglichkeiten, über das eigene Leben mit HIV zu sprechen, ausloten.
Raphaël Depallens
Raphaël ist Projektleiter bei der Aids-Hilfe Schweiz im Bereich "Leben mit HIV" und im Bereich "Menschen mit einer Verbindung zu Hochprävalenzländern". Seit 2004 engagiert er sich in der Romandie in verschiedenen Projekten und Vereinen, hauptsächlich im Bereich der sexuellen Gesundheit und insbesondere der sexuellen Gewalt, der LGBTIQ+|Queer Diversität und der Reduzierung von Diskriminierung (Prävention - Schulungen - Beratungen).
Raphael ist ausgebildeter Sozialpädagoge (FH) und hat im Gefängnis, in Heimen, in Spezialberatungen und in der Schule gearbeitet.Er lebt seit 2015 mit HIV und möchte seine Erfahrungen und Kenntnisse insbesondere in Projekte einbringen, die die Vorstellungen im Zusammenhang mit HIV nachhaltig verändern.
Wohlgemerkt, es geht in diesem Artikel nicht um die Frage der rein persönlichen Entscheidung, ob man darüber sprechen soll oder nicht, sondern um die Gelegenheit, es zu können. Dazu möchte ich das Thema aus drei Perspektiven beleuchten: Geschichte, Individuum und Kontext.
Geschichte
Zunächst einmal lässt sich unschwer feststellen, dass HIV im Vergleich zu anderen Viren schon lange genug einen miesen Ruf hat. Natürlich will ich damit nicht sagen, dass einem Virus ein Wert oder ein Platz in irgendeiner Hierarchie zuordenbar wäre.
In den 80er-Jahren wurde HIV ignoriert und totgeschwiegen. Dann wurde es oft Personen mit vermeintlich ausschweifendem Lebensstil zugeschrieben – den zu Ausgegrenzten erklärten Personen, den «Anderen». Diese wertende und falsche Wahrnehmung führte zu Stigmatisierung und Unsichtbarmachung. In den 90er-Jahren dann wurden angesichts der vielen Aids-bedingten Todesfälle wichtige und schnellwirksame Massnahmen ergriffen, die allerdings oft zu einer Verstärkung der Angst (siehe etwa den Comic «Jo») oder zu einer Überladung mit Eigenverantwortung (etwa das allgegenwärtige Kondom) führten. Dabei scheint mir Angst kein adäquates Instrument der Prävention zu sein, und das Kondom hat neben seinen unbestreitbaren Vorzügen auch Nachteile, die man hätte berücksichtigen sollen. Mitte der 90er-Jahre, mit dem Aufkommen der ersten Therapien, geriet HIV aus dem Fokus, war kein so vieldiskutiertes gesellschaftliches Thema mehr, und zum Leben mit HIV erfuhr man weiter nichts.
Heute überträgt eine Person mit HIV unter wirksamer Therapie das HI-Virus nicht, doch lässt sich damit kaum gegen die historische Last ankommen. In der Bevölkerung herrscht in Bezug auf HIV noch immer das Bild aus der Vergangenheit, das den Nährboden für Stigmatisierung, Ablehnung und Probleme bildet, die im besten Fall das Selbstwertgefühl schmälern, im schlimmsten Fall aber die psychische Gesundheit beeinträchtigen können. Im Vergleich dazu ist Covid ein Virus, dem eine ganz andere Aufmerksamkeit sowie schnelle und nachhaltige Ressourcen zuteilwurden, weshalb die Kenntnisse in der Bevölkerung hier entsprechend höher sind: Alle wissen, wie Covid übertragen wird, und kennen sogar die Varianten des Virus. Bei HIV ist dagegen nicht allgemein bekannt, was U = U (oder, auf Deutsch, N = N) bedeutet, und die falschen Überzeugungen hinsichtlich der Übertragungswege sind nach wie vor besorgniserregend.
Individuum
Im Lauf des Lebens wird jeder, jede Einzelne durch verschiedene Erfahrungen geprägt. Diese Erfahrungen spielen eine wichtige Rolle beim Erwerb der Fähigkeiten, über sich selbst und das Leben mit HIV zu sprechen. Manchmal hängt die Angst vor dem Sprechen mit den eigenen komplexen Lebenserfahrungen oder entsprechenden Berichten anderer zusammen. Manche Menschen tun sich leicht damit oder empfinden es als fast natürlich, selbstbewusst aufzutreten; für andere dagegen ist es weniger selbstverständlich. Zudem muss man sich klarmachen, wie komplex es sein kann, das Leben mit HIV zu erklären, beispielsweise:
- die Nichtübertragbarkeit von HIV unter wirksamer Behandlung allgemeinverständlich und korrekt zu vermitteln,
- die Herausforderungen des Lebens mit HIV verständlich zu machen,
- zu versichern, dass man nicht an den Folgen von HIV sterben wird,
- die Art der Übertragung (und damit Substanzkonsum und Sexualverhalten, also intime Aspekte) anzusprechen.
Kontext
Dieses Element spielt eine wesentliche Rolle, auch wenn es zweifellos unauflösbar mit den beiden bereits genannten Elementen (Geschichte und Individuum) verflochten ist. Gleichwohl liefert der Kontext Gelegenheit und Anstösse zum Sprechen, er kann sehr konkrete Möglichkeiten bieten, sich selbstbewusst genug zu fühlen, um das eigene Leben mit HIV zu thematisieren. Generell kennen wir wohl alle zahlreiche Beispiele für Situationen, in denen der Kontext (Personen aus dem Umfeld, soziale Bindungen usw.) den Austausch persönlicherer Informationen begünstigt hat.
Zudem muss man bedenken, dass das Leben mit HIV oft auf relativ wenig Empathie stösst, während andere Krankheiten wesentlich mehr Anteilnahme hervorrufen.
Ein unterstützendes Umfeld, das einer Person mit HIV positiv und zugewandt begegnet, ist relativ wichtig dafür, dass sie über sich sprechen und ein gutes Leben führen kann. Der Mangel an Informationen und Wissen über HIV sowie Mythen und Vorurteile töten – langsam zwar, aber sie töten! Grundsätzlich ist meines Erachtens der Kontext das Schlüsselelement, um das Schweigen zu überwinden.
Fazit
Von zentraler Bedeutung ist es also, nicht der Person mit HIV die Verantwortung dafür aufzubürden, ob sie lieber sprechen oder schweigen will, da dies stark vom situativen und historischen Kontext abhängt. Sehr oft habe ich gehört, dass Menschen Formulierungen wie «den Mut haben, darüber zu sprechen» oder «sich zu sprechen trauen» verwenden, was eigentlich in die Irre führt, weil dieser Schritt nicht allein in der «Verantwortung» der jeweiligen Person liegen kann; vielmehr fliessen auch andere Faktoren ein. Der historisch geprägte Kontext ist ein wesentliches Indiz, wie sich etwa an dem Umstand zeigt, dass auch heute noch für viele Menschen HIV und Aids ein und dasselbe sind.