«Ein Kuss zum Abschied – mehr war nicht möglich»
Ich war 15 Jahre alt, als mein Vater 1989 an Aids starb. Er war 36 Jahre alt. Wir hatten von seiner Krankheit nur wenige Monate zuvor erfahren. Zu jener Zeit wurde bereits über Aids gesprochen, vor allem durch den Tod von Prominenten wie Rock Hudson. Aber die Sache war, nicht zuletzt in der Schweiz, noch sehr abstrakt, und die spektakulären Aktionen von Act Up-Paris, das in jenem Jahr gegründet wurde, hatten noch nicht begonnen.

Zeugnis aufgezeichnet von Laure Dasinieres
Ich sah meinen Vater wenig. Unsere seltenen Momente miteinander waren zugleich zärtlich und unbeholfen. Ich glaube, er wusste nicht, wie er mit den Kindern umgehen sollte, da er selbst in einem Schweizer Internat, weit weg von seiner Familie, aufgewachsen war, wo er mit drei Jahren, nach seiner Ankunft aus Ägypten, untergebracht worden war. Als ich zwölf war, nahm er mich in die Stadt, um mir einen Walkman zu kaufen. Wir beide waren ein wenig verlegen. Ich glaube, er war es, der meinem Bruder und mir das Schachspielen beibrachte. Er liebte Literatur, und ich habe nur einige Bücher von ihm behalten, die er mit Anmerkungen versehen hat.
Ich habe meinen Vater nur einmal krank gesehen. Er war schon sehr schwach: Er bewegte sich im Roll-stuhl und hatte Gedächtnisstörungen. Man sprach damals von einem Gehirntumor. Am Tag vor seinem Tod wurden mein Bruder und ich zu ihm gerufen. Man sagte uns: «Euer Vater hat Aids. Sein Drogenkonsum hat seine Gesundheit ruiniert.»
Ich fuhr sofort ins Spital, um ihn zu sehen. Er war bereits bewusstlos, das Gesicht ausgemergelt, was damals typisch für Menschen mit Aids war. Ich konnte nicht mit ihm sprechen, ihm nur einen Kuss geben. Ein paar Stunden später starb er.
Nach seinem Tod gab es noch weitere Todesfälle in der Familie. Immer an Aids. Es war eine Tragödie, die kein Ende zu nehmen schien. Ich trug diese Last, und später, als ich erwachsen wurde, verliess ich die Stadt, in der ich aufgewachsen war. Wie um das Geheimnis zu bannen und all die unbekannten Fragen, die meine Geschichte umgaben, zu klären, stürzte ich mich fast zwanghaft in die Geschichte dieser Epidemie. Ich wollte alles verstehen. Wann hatte sie begonnen? Wo? Wie? Wie hatte sie sich ausgebreitet? Ich erforschte ihre Geschichte, von den ersten «offiziellen» Fällen in den 80er-Jahren bis hin zu den Kombinationstherapien. Ich las über den Aktivismus, die am stärksten betroffenen Communitys, die ersten Behandlungen, die falschen Hoffnungen, die politischen Kämpfe. Dann suchte ich nach den ersten Spuren / Erwähnungen von Aids im Kino, im Theater, in der Literatur … Ich las alles, sah mir alles an. Ich untersuchte, wie die Popkultur das Thema aufgriff, wie sie von dieser Krankheit erzählte – oder sie verschwieg. Ich wurde eine Expertin auf diesem Gebiet. «Ich wurde eine Expertin für etwas, das ich nicht verstehen konnte, als es geschah.» All das hat mir geholfen, indem es mir ermöglichte, für das, was ich nie hatte sagen können, Worte zu finden und dem, was ich nicht verstanden hatte, einen Sinn zu geben. Vor allem wurde mir klar, dass all die Fragen, die mich 1989 gequält hatten (woher kommt diese Krankheit? warum gibt es keine Behandlung? was ist hier los?), nicht nur meine eigenen waren. Es waren die Fragen der ganzen Welt.
Das Schweigen, in dem ich aufwuchs, war nicht nur das Schweigen meiner Familie oder die Scham, die die Gesellschaft auferlegte. Es war auch das Schweigen der Ungewissheit, denn zu dieser Zeit bewegte man sich blind vorwärts. Aids wurde nach und nach erforscht, mit mehr Ängsten als Antworten.