"Ein Leben voller Möglichkeiten"

Die in Zürich geborene Melanie Öztürk, 31, lebt seit ihrer Geburt mit HIV. Als sie zwei Jahre alt ist, stirbt ihre Mutter an Aids. Melanie kommt als Kleinkind in eine Pflegefamilie und kämpft gegen die lebensbedrohlichen Folgen ihrer HIV-Infektion. Melanie überlebt und ist heute kerngesund. Und mehr als das: Sie ist eines der Gesichter der Kampagne zum Welt-Aids-Tag 2024 der Aids-Hilfe Schweiz und engagiert sich auf Social Media gegen die Diskriminierung von Menschen mit HIV.

Marlon Gattiker: Du lebst seit deiner Geburt mit HIV. Wann wurde dir das bewusst? 

Melanie Öztürk: Meine erste Erinnerung habe ich ans Kinderspital Zürich. Das war in den 1990er-Jahren, als ich fünf Jahre alt war. Mir war damals bewusst, dass ich etwas Schlimmes habe. Ich hatte einen Port (Zugang für Infusionen, Anm. d. Red.) und war sehr oft krank, hatte zum Beispiel Lungenentzündungen. Ich hatte seelisch wie körperlich viele Schmerzen. 

Marlon: Wer hat dich in dieser schwierigen Zeit aufgefangen? 

Melanie: Ganz ehrlich – ohne meine Pflegemutter hätte ich das nicht überlebt! Meine Mutter starb an Aids und mein Vater war leider nicht fähig, auf mich zu schauen. Deshalb wuchs ich in einer Pflegefamilie auf – und meine Pflegemutter war eine grosse Stütze. 

Marlon: Wie sah dein Leben in der Pflegefamilie aus?

Melanie: Ich wuchs im Tösstal auf einem Bauernhof auf. Zur Pflegefamilie gehören auch zwei Söhne, die wie meine Brüder sind – da mache ich keinen Unterschied. Das Verhältnis zu meiner Pflegefamilie war sehr gut, und auch heute habe ich noch regen Kontakt zu meiner Pflegefamilie. 

Marlon: Wie hast du die Schulzeit erlebt? 

Melanie: Leider habe ich negative Erfahrungen gemacht in meiner Kindheit. Meine Pflegemutter ist sehr offen mit meiner Infektion umgegangen. Sie hat nie das Wort HIV benutzt, aber die Wörter Immunschwäche oder InfektionskrankheitDen Lehrer:innen hat sie gesagt, dass ich mit HIV lebe und deshalb oft ins Spital muss. Das hat sich dann aber rumgesprochen. Und als eine Freundin zu ihrem Geburtstag eine Poolparty organisierte, wollte ihre Mutter nicht, dass ich komme – aus Angst, dass ich andere anstecke. 

Marlon: Wie bist du damals damit umgegangen? Was hat das in dir ausgelöst? 

Melanie: Das hat mich sehr wütend gemacht. Ohne sich zu informieren, so eine Entscheidung zu treffen, war für mich unglaublich. Ich war damals acht Jahre alt, und es war alles andere als einfach für mich. 

Marlon: Und dann wurdest du älter, die Pubertät kam. Inwiefern hat dein HIV-Status deine Pubertät geprägt? 

Melanie: Ich habe es mit auf den Weg bekommen, sehr offen mit meinem HIV-Status umzugehen. Dennoch selektiere ich, wem ich davon erzähle. Leider habe ich in der Anfangszeit bei Dates Zurückweisung von Männern erfahren. 

Marlon: Waren das bestimmte Typen von Männern, oder ist dies ein genereller Eindruck?

Melanie: Ein genereller Eindruck. Wir waren auch noch jung, 15, 16 Jahre alt, und in der Schule haben wir das Thema HIV nicht behandelt. 

Marlon: Gab es auch erfreuliche Erfahrungen im Bereich Dating, die dich ermutigt haben? 

Melanie: Ja! Und zwar mit meinem ersten Freund. Als ich zwanzig war, lernte ich ihn kennen. Ich erzählte ihm von meiner Diagnose und seine Reaktion war: «Ja und jetzt? Das spielt überhaupt keine Rolle – ich akzeptiere dich so, wie du bist.» 

Marlon: Könntest du uns kurz mitnehmen in diese Situation, als du deinem Freund davon erzählt hast? 

Melanie: Es war eher spontan. Ich hatte das Gefühl, dass der richtige Zeitpunkt gekommen ist. Ich sagte zu meinem Freund: «Du, ich wollte noch was mit dir besprechen.» Ich sagte: «Ich lebe mit HIV, spielt das für dich eine Rolle oder nicht?» Er sagte, für ihn sei dies überhaupt kein Problem, und nahm mich in den Arm. 

Marlon: Hatte dein Freund bereits Vorwissen zu HIV? Zum Beispiel bezüglich der Nichtübertragbarkeit von HIV unter erfolgreicher Therapie. Als du dich deinem Freund anvertraut hast, war das Swiss Statement* ja bereits draussen. 

Melanie: Jetzt erst realisiere ich, dass das Swiss Statement damals noch nicht so präsent war und er davon nichts wusste. Ich denke, bei Heterosexuellen geht es generell mehr um Schwangerschaft als um sexuell übertragbare Infektionen. Aber mein erster Freund, mit dem ich übrigens sieben Jahre zusammen war, zeigte mir, dass es wundervolle Männer gibt, die diesem Thema ohne Vorurteile begegnen. 

Marlon: Wechseln wir das Thema. Wie gehst du am Arbeitsplatz mit deinem HIV-Status um? 

Melanie: Es ist stets ein Abwägen. Beim Kennenlernen hat man ein gewisses Gespür und entscheidet dann. Meine ehemalige Berufsbildnerin weiss es zum Beispiel. Weil ich mich wirklich sehr gut verstehe mit ihr. 

Marlon: Was wäre deine Botschaft an andere Menschen, die mit HIV leben und sich womöglich noch niemandem anvertraut haben? 

Melanie: Eine schwierige Frage! Weil auch ich das lernen musste. Mein Motto ist immer: Sei ehrlich, sei offen, wenn du dich dazu bereit fühlst. Wenn dich eine Person nicht so akzeptiert, wie du bist, gehört sie nicht in dein Leben. Generell würde ich die Leute dazu ermutigen, Erfahrungen zu machen, auch wenn es manchmal weh tut. Aber auch negative Erfahrungen lassen einen wachsen. 

Marlon: Die Familie deines Vaters ist türkischer Abstammung. Siehst du kulturell geprägte Eigenheiten im Umgang mit HIV? 

Melanie: Ich hatte ja schon früh eine Narbe im Bereich des Schlüsselbeins wegen meinem Port. Und immer wenn Besuch kam und fragte, was der Port solle, sagte meine Grossmutter: «Sag einfach, du hast Krebs.» Ich finde das unglaublich, dass Krebs im Vergleich zu HIV so verharmlost wird. In türkischen Kulturkreisen ist HIV oft verpönt. Auch wenn das Thema Heiraten aufkam, sagten mir Familienmitglieder, ich solle meinen HIV-Status verschweigen. 

Marlon: Hast du im Verlauf deines Lebens eine Veränderung wahrgenommen, wie die Leute HIV wahrnehmen? 

Melanie: Meiner Meinung nach hat sich in den letzten zwanzig Jahren einiges verändert. Es ist viel Aufklärungsarbeit gemacht worden, auch seitens der Aids-Hilfe Schweiz. Das ist angekommen bei den Leuten. 

Marlon: Was fehlt noch, was wünschst du dir? 

Melanie: Dass die Diskriminierung im Gesundheitswesen endet. Dort sehe ich viele Probleme. Letzthin war ich beim Zahnarzt für die Dentalhygiene. Ich erhielt ein Formular zum Ausfüllen, ob man andere Krankheiten hat. Ich schrieb auf, dass ich mit HIV lebe. Die Zahnärztin sagte mir dann: «Sie haben noch Diabetes angekreuzt.» Ich verneinte. Dann sagte sie: «Warten Sie kurz.» Das Wartezimmer war in der Mitte aller Sprechzimmer. Und dann rief sie über all die Zimmer zur Rezeption: «Nein, es ist nicht Diabetes, es ist schlimmer, es ist HIV!» Da sagte ich: «Sie, ich möchte das hier abbrechen» und bin davongelaufen. 

Marlon: Als Kind hattest du ernste gesundheitliche Problem. Wie geht es dir heute? 

Melanie: Ich bin zurzeit in Therapie, vor allem, um die schwere Zeit als Kind im Spital zu verarbeiten. Aber ansonsten geht es mir sehr gut – ich habe keine irreversiblen Schäden erlitten, habe ein super Umfeld und fühle mich wohl! 

Marlon: Hast du Kontakt zu anderen Menschen, die mit HIV leben? 

Melanie: Ich war mal in einer Gruppe, sie hiess Youth+. Leider gibt es diese Gruppe mangels finanzieller Mittel nicht mehr. Ich habe keinen Kontakt mehr zu diesen Leuten, was sehr schade ist. Das war wirklich eine geschützte eigene Welt, eine Selbststärkungsgruppe. Man konnte sich austauschen, ohne diskriminiert zu werden. 

Marlon: Was, denkst du, ist wichtig für Menschen, die eine Neudiagnose erhalten? 

Melanie: Es ist sehr wichtig, nicht allein zu sein. Wenn ich ein Rat geben würde, wäre das, sich Menschen zu suchen, mit denen man sich wohlfühlt, und mit ihnen zu sprechen. Das hilft enorm. 

* Das Swiss Statement ist eine Erklärung der Eidgenössischen Kommission für Aidsfragen (EKAF, heute EKSI) aus dem Jahr 2008, dass HIV unter erfolgreicher Therapie nicht mehr übertragen werden kann.