Einst gebeutelt, heute Aktivistin

Nach wie vor fühlen sich viele heterosexuelle Menschen kaum von HIV betroffen. Und die HIV-Community, die Menschen mit HIV informiert und stützt, ist stark schwul geprägt. Dabei kann es cis-hetero-Personen genauso treffen – wie Julia. Die 33-Jährige lebt seit 12 Jahren mit HIV und ist heute Aktivistin. Doch gerade zu Beginn musste sie mit Feindseligkeiten jener Menschen umgehen, die ihr zuvor am nächsten gestanden waren.

Santina Russo, Wissenschaftsjournalistin aus Zürich

Kurz vor Beginn der Beziehung hatte sie noch einen HIV-Test gemacht. «Ich war schon immer verantwortungsbewusst und fand es ganz normal, mich mal testen zu lassen», sagt Julia. Der Test der damals 20-Jährigen war negativ, was sie auch ihrem neuen Freund erzählte. «Er fand es komisch, dass ich überhaupt einfach so einen Test gemacht hatte, und lehnte dies für sich selbst ab», erzählt Julia heute. Ein Jahr später rief die Stadt, in der Julia lebte, zu einem Test für eine Knochenmarkspende auf. Ein Bub war an Blutkrebs erkrankt und benötigte eine:n Spender:in. Beide, Julia und ihr Freund, nennen wir ihn Mark, gaben Blutproben. «Als ich einen Anruf von der zuständigen Arztpraxis erhielt, mit der Bitte, zu einem Termin zu kommen, ahnte ich schon, dass etwas nicht stimmt.» Julia rechnete mit einer Krebsdiagnose. Stattdessen: HIV-positiv. «Ich dachte: Das war’s, ich sterbe.»

Wie viele andere cis-hetero-Frauen zu jener Zeit – und heute noch – war Julia schlecht über HIV informiert. Sie wusste nicht, dass sich die Infektion schon damals gut mit Medikamenten behandeln liess. Heute, zwölf Jahre nach ihrer Ansteckung, hat sie akzeptiert, was passiert ist. Ähnlich wie Menschen, die um eine:n Angehörige:n trauern, hat sie verschiedene Phasen durchlebt. Unter anderem verspürte sie eine starke Wut ihrem damaligen Freund gegenüber, weil er sie angesteckt hat – und wegen der Art, wie er damit umging. Heute ist der inzwischen 33-Jähringen wichtig, dass die Veröffentlichung ihrer Geschichte nicht auf ihn oder seine Familie zurückfällt, darum möchte sie weder seinen Namen noch ihren Nachnamen offenlegen.

Heute würde ich sagen: Fuck you

Als Julia von ihrer Ansteckung erfuhr, wurde rasch klar, dass auch ihr Freund Mark positiv war und dass er HIV in die Beziehung gebracht hatte. Doch seine Eltern wollten das nicht wahrhaben. Sie wünschten, dass man nicht über die HIV-Ansteckung sprach. Julia aber hatte das Bedürfnis, darüber zu reden, um die Situation und ihre Gefühle zu verarbeiten. Als sie ihre Ansteckung das erste Mal einer Freundin gegenüber offenlegte und Marks Eltern das mitbekamen, wurde sie bestraft: Die Eltern, die bisher zu Julias Vertrauenspersonen gehört hatten, sprachen tagelang nicht mehr mit ihr. «Das hat sich angefühlt, als hätte ich etwas verbrochen», sagt Julia heute.

Und es gab mehr Unschönes in der Partnerfamilie. Als sich Julia einmal eine Schramme am Fingernagel zugezogen hatte, durfte sie nicht mehr in die Nähe der kleinen Nichte von Mark. «Das Schlimmste daran war, dass mein Freund mich vor seiner Familie nicht in Schutz genommen hat. Das hat mich richtig fertig gemacht.» Und obschon aufgrund ihrer Vorgeschichten klar war, dass Mark sie angesteckt hatte und nicht etwa umgekehrt, wurde dies von seiner Familie nicht akzeptiert. Von seiner Mutter hiess es gegenüber Julia: «Vielleicht hat er es ja doch von dir, das weisst du gar nicht.» Im Nachhinein tue ihr ihr jüngeres Ich leid, sagt Julia. «Heute könnte ich ganz anders mit sowas umgehen. Einfach sagen: Fuck you.»

HIV gibt es auch bei Heterosexuellen

«Wenn ich jetzt zurückdenke, bin ich stolz darauf, wo ich heute stehe.» Doch dieses Trauma zu überwinden, benötigte ordentlich psychische Arbeit. Ein wichtiger Teil davon war die Trennung von Mark und seiner Familie. Julia begann eine Therapie und immer mehr sprach sie in ihrem Freundeskreis über ihr Leben mit HIV. «Mittlerweile wissen es alle und gehen cool damit um.» Selbst, wenn es nicht so wäre: «Heute mag ich mich selbst wieder und könnte damit umgehen, wenn jemand wegen HIV eine Freundschaft mit mir ablehnen würde. Ich weiss: HIV ist nicht das, was mich ausmacht.» Als sie später einen neuen Partner hatte, war ihr HIV-Status kein Problem. «Man muss ja nur einmal googeln und erfährt sofort, dass die Medikamente verhindern, dass man jemanden ansteckt.»

Doch Julia fällt auf, wie unaufgeklärt viele sind. So wussten laut einer Umfrage der Deutschen Aidshilfe 2020 nur 18 Prozent der Befragten, dass Menschen mit HIV unter erfolgreicher Therapie das Virus nicht mehr übertragen. In einer repräsentativen Schweizer Umfrage  wussten es 2024 ebenfalls nur 22 Prozent. «Ebenso erschreckend finde ich, wie wenig präsent der Gedanke ist, sich gegen HIV zu schützen.» Laut einer Untersuchung der WHO von 2024 benutzen Jugendliche in Europa heute seltener Kondome als noch vor zehn Jahren. Fast ein Drittel der zehntausende Befragten verwendeten bei ihrem letzten Geschlechtsverkehr weder Antibabypille noch Kondom.

«Immer noch ist in den Köpfen der meisten drin, dass HIV vor allem schwule Männer betrifft, Heterosexuelle dagegen kaum», beobachtet Julia. «Heute ist der Standard vielfach, dass der Mann fragt: Nimmst du die Pille, ich habe keinen Bock auf ein Kind. Aber die wenigsten Frauen sagen: Ziehst du ein Kondom über, ich habe keinen Bock auf sexuell übertragbare Infektionen.» Wenn Julia mitkriegt, wie nonchalant manche junge Frauen ungeschützt Sex haben, macht sie das wütend.

Denn auch wenn sie als Mensch mit HIV heute ein weitgehend normales Leben lebt, war der Weg dazu, mit ihrem HIV-Statusumzugehen, steinig. Und die starken Medikamente, die sie jetzt jeden Tag nehmen muss, vertrug sie gerade am Anfang schlecht: Sie fühlte sich antriebslos, litt unter Schwindel und Übelkeit, musste sich erbrechen. Rückblickend hatte sie zudem durchaus Symptome, bevor sie von ihrem HIV-Status wusste. Sie hatte eine schlimme Grippe, die lange blieb, Herpes an der Lippe und am Ohr, sogar Keuchhusten. Etwa ein halbes Jahr lang war sie wechselweise krank. Und bekam jeweils von den Ärzt:innen etwas gegen die aktuellen Beschwerden, Mittel gegen Fieber, Herpes und Keuchhusten. An HIV dachte niemand.

Von der Selbstfindung zur Mission

Auch deshalb macht Julia heute Aufklärungsarbeit. «Mir ist es ein Anliegen, mitzuhelfen, den Menschen die Augen für HIV zu öffnen.» Sie exponierte sich beispielsweise auf einer Podiumsdiskussion zum Thema HIV am Reeperbahn Festival in Hamburg 2022. 2023 war sie das Gesicht der Kampagne der Deutschen Aidshilfe. Und bei ihrer letzten Podiumsdiskussion, die von der Anlaufstelle Sexuelle Gesundheit Zürich SeGZ organisiert war, wurde thematisiert, wie schlecht aufgeklärt zu HIV selbst viele Personen im Gesundheitswesen sind. Das hat auch Julia schon erlebt. Sie erzählt, wie sie von einer Frauenärztin, die Ferienvertretung machte und Julia darum noch nicht kannte, gefragt wurde, warum sie positiv und ob sie denn drogenabhängig sei. «Crazy, was auch bei Ärzt:innen an Vorurteilen vorhanden ist.»

Für Julia selbst ist heute alles anders – besser. Sie ist sportlich, macht auch ab und zu Party und weiss, dass sie noch Kinder bekommen kann. Mit ihrem jetzigen Freund führt sie eine ganz gewöhnlicheBeziehung. Sie erzählte ihm, dass sie mit HIV lebt, als sie anfing, sich zu verlieben. Und natürlich gab es diesen schwierigen ersten Moment, wo ihm nicht klar war, was das nun bedeutet. «Und dann redet man darüber und es löst sich», sagt Julia.

Seit Oktober 2023 wohnen die beiden zusammen in Zürich, in einer kleinen, aber urheimeligen 1.5-Zimmer-Wohnung. Zurzeit macht Julia ihren Master in Agrarwissenschaften. Künftig wird sie zudem ehrenamtlich bei der Anlaufstelle «Sexuelle Gesundheit Zürich», kurz SeGZ, mitarbeiten. Ihre eigene Geschichte dürfte ihr dabei helfen.