"Entspannt. Älterwerden mit HIV."
Die 1965 in Zürich geborene Susanne Buser wuchs in einem schwierigen Umfeld auf und kämpfte in ihrer Jugend mit Drogenabhängigkeit. Mit 15 Jahren kam sie ins Heim und geriet immer tiefer in die Drogenszene. Doch Susanne gab nicht auf. Nach Jahren der Rückfälle und Gefängnisaufenthalte fand sie in einer Entzugseinrichtung in Frankreich den Wendepunkt. Heute lebt sie als gesunde, starke Frau mit HIV und engagiert sich als Mitglied des Positive Life Advisory Boards*. Ihre Geschichte ist ein Symbol für Überlebenswillen und Resilienz.

Marlon: Was fühlst du, wenn du heute an der Riviera in Zürich entlangläufst?
Susanne: Es weckt viele Erinnerungen an meine Drogenzeit. Der Ort war früher alles andere als ein idyllischer Spaziergang –Drogenabhängige, Spritzen auf den Bänken. Damals schlief ich manchmal in der Telefonkabine am Bellevue. Heute bin ich stolz, dass ich überlebt habe und den Drogen entkommen konnte.
Also gehst du mit einem positiven Gefühl dort entlang?
Ja, auch wenn es immer noch schmerzt. Die Drogen kamen mit der Verzweiflung, die ich als junger Mensch fühlte. Ich suchte nach Akzeptanz und Zugehörigkeit. Es war eine Zeit des Suchens und der inneren Leere, die sich nur mit Drogen zu füllen schien. Heute ist es aber nicht mehr als eine Erinnerung und das ist gut so.
Wie kam es, dass sich bei dir eine Drogenabhängigkeit entwickelte?
Ich wuchs in einem schwierigen Umfeld auf – mein Vater war aggressiv, hatte ein Alkoholproblem, meine Mutter war überfordert. Schon als Kind hatte ich keine feste Bezugsperson, die mir Halt geben konnte. Mit 15 kam ich ins Heim, wo ich mit Drogen in Kontakt kam – als Flucht, als Suche nach Zugehörigkeit. Wir schnüffelten Leim und rauchten Joints. Drogen gaben mir das Gefühl, irgendwie überleben zu können. Sie verschafften mir eine Auszeit von der Realität. Zudem hatte ich zwei ältere Geschwister, die beide ebenso drogensüchtig wurden.
Du bist Jahrgang 1965 und in Zürich gross geworden. Kannst du uns mehr über die wilden 80er Jahre erzählen?
Die Zeit war von Drogen geprägt – viele von uns wollten aus dem Hamsterrad des Alltags ausbrechen, rebellieren. Punk, Drogen, Ausprobieren. Es war eine Art, sich gegen das System zu stellen. Die Behörden versuchten uns immer aus dem Stadtbild zu verdrängen. Es gab keine Akzeptanz für die, die aus dem Raster fielen. Und viele von uns – ich eingeschlossen – wollten einfach irgendwo dazugehören. Und so nahm meine «Drogenkarriere» ihren Lauf.
Was passierte nach deinem Aufenthalt im Kinderheim?
Nach dem Heim ging es schnell bergab. Ich landete in einer anthroposophischen Familie in Vevey, aber es funktionierte nicht. Ich wollte einfach nur akzeptiert werden, aber fühlte mich immer wie eine Aussenseiterin. Danach kam die Strasse – und mein erster Kontakt mit Heroin. Ich wollte einfach runterkommen von einem LSD-Horrortrip und spritzte mit Freund:innen an der Riviera das erste Mal Heroin. Zuerst dachte ich, ich hätte alles unter Kontrolle, aber schnell merkte ich, dass es nicht so war. Es zog mich immer tiefer rein.
Wie ging es weiter?
Es war ein Teufelskreis. Ich landete immer wieder im Gefängnis wegen Drogenbesitz oder -handel, ging in psychiatrische Kliniken, entwickelte eine Bulimie. Ich prostituierte mich, um Geld zu verdienen. Mit 18 sass ich wieder in U-Haft und erkannte, dass sich alles im Kreis drehte. Es war wie ein Hamsterrad: Verhaftung, Entlassung, Rückfall. Wieder und wieder. Ich wollte ausbrechen und entschloss mich auf Drängen meines fürsorglichen Jugendanwaltes, nach Frankreich zu gehen, um einen Entzug zu machen. Ich brauchte einen radikalen Schnitt.
Dein Jugendanwalt half dir, nach Frankreich zu gehen?
Ja, er glaubte an mich, als alle anderen aufgaben. Er fuhr mich höchstpersönlich mit dem Auto dorthin. Der Entzug in der Institution «Le Patriarche» in Frankreich war mein Wendepunkt.
Was war das Besondere an der Patriarche?
Am Anfang wollte ich abhauen. Aber mit der Zeit verstand ich, dass ich nicht alleine war. Die Patriarche war eine Institution mit 40 Personen. Wir versorgten uns selber, wurden aber von Ärzt:innen und Leitenden betreut. Alle, die dort waren, hatten eine Drogenvergangenheit, verstanden mich. Ich lernte, Verantwortung zu übernehmen und für andere da zu sein. So betreute ich selbst Menschen im kalten Entzug – wie ich es erleben durfte. Es war viel mehr als ein Job, es war mein Leben. Nach drei Jahren stieg ich zur Führungskraft auf und ich half mit, neue Entzugszentren zu eröffnen.
Was für eine Rolle spielte HIV in dieser Zeit?
In den 80er Jahren starben viele an Aids. In Frankreich arbeiteten wir mit dem Institut Pasteur zusammen, um uns regelmässig testen zu lassen. Mein HIV-Status war lange negativ, obwohl mein Partner mit HIV lebte. Klar gab es Bedenken, aber ich akzeptierte das Risiko, weil ich verliebt war.
Nach der Zeit in Frankreich bist du mit deinem Freund nach Spanien ausgewandert.
Nach der Patriarche zogen wir nach Valencia. Anfangs war es schwer, ich konnte kein Spanisch und besass kaum etwas. Aber ich wollte neu anfangen und entschloss mich, auf dem Fischmarkt zu arbeiten. Es war spannend,
denn ich kannte nur Fischstäbli. Ich lernte schnell Spanisch und baute mir ein neues Leben auf. Es war auch immer klar, dass ich Kinder wollte, auch wenn mir davon abgeraten wurde. Als ich schwanger wurde, war ich einfach nur glücklich, trotz der Ängste und Herausforderungen.
In der Schwangerschaft hast du erfahren, dass du mit HIV lebst. Wie gingst du damit um?
Ich nahm das Risiko von Anfang an in Kauf. Ich fühlte mich gesund, hatte keine Symptome. Es war eine schwierige Situation, aber ich hatte Vertrauen, dass alles gutgehen würde. Erst später nach der Geburt meines zweiten Sohnes, als meine Werte schlechter wurden, begann ich mit den Medikamenten. Ich akzeptierte, was war und ging meinen Weg. Meine Söhne kamen gesund auf die Welt und ich war überglücklich.
Dann hast du deinen Partner verloren. Wie war diese Zeit?
Mein Partner starb an Aids. Wir hatten aber länger vor seinem Ableben schon länger keinen guten Draht mehr zueinander. Er war sehr aggressiv und fühlte sich ständig als Opfer. Als er sich sicher war, dass es unserem Sohn gut geht, wollte er Abschied nehmen. Ich war damals 30 Jahre alt und mein ältester Sohn war 4-jährig. Es war eine schwierige Zeit, aber ich wusste, dass ich weiterkämpfen musste – für meinen Sohn und für mich.
Hattest du je Kontakt zu anderen Menschen mit HIV?
Eigentlich nur mit dem Vater meines zweiten Sohnes. In der Drogenszene ist es anders. Man lebt im Moment und kämpft ums Überleben. Auch ist es im Unterschied zur HIV-Community beispielsweise bei Homosexuellen so, dass viele Leute in der Drogenszene Drogen phasenweise nehmen und dann wieder aufhören. In dieser Gruppe von Menschen läuft alles viel dynamischer ab. Zudem behielt ich mein Leben mit HIV früher stets für mich, aber jetzt, als Teil des Positive Life Advisory Boards, freue ich mich, andere Menschen mit HIV kennenzulernen.
Wir haben viel über früher gesprochen. Wie sieht dein Leben zurzeit aus?
2011 bin ich in die Schweiz zurückgekommen und habe einen Pflegehelferkurs gemacht. In einem Zürcher Pflegezentrum fand ich ein tolles Team. Irgendwann entschied ich, meine Geschichte im Team zu teilen – ich wollte mich befreien und akzeptiert werden. Diesen Moment in der Teamsitzung werde ich nie vergessen. Es war unglaublich befreiend, meine Vergangenheit offen anzusprechen, und die Reaktionen waren überwältigend positiv. Ich konnte mich selbst noch mehr annehmen und anderen zeigen, dass es möglich ist, sich zu verändern und neue Wege zu gehen. Im Leben öffnen sich immer wieder neue Türen, das ist unglaublich schön!