Frau fürs Militär: Rafas queeres Leben zwischen Drag, Aktivismus und HIV
In einem eleganten Deuxpièces, Netzstrumpfhosen und mit dezentem Make-up stieg Rafael Marx (Rafa) aus dem Taxi. Er war nervös, doch diesen Scherz wollte er sich nicht entgehen lassen. Rafa macht sich nur für ganz besondere Anlässe so hübsch, und heute war so einer: Er musste beim Militär antreten. Herr Abwart Kuhn machte grosse Augen und der Herr Sachbearbeiter Füllemann wandte seine Augen stets weg von ihm. «Sie sind doch hier an einem Ort, wo Männer zu erscheinen haben!» Ungefähr so schilderte Rafa die Szenerie, die sich irgendwann in den 70er-Jahren abgespielt haben muss. Er schrieb eine Ballade darüber, die er in seinen politischen Drag-Shows vortrug.

In der ganzen Deutschschweiz war er unterwegs, von Bern bis ins Appenzellerland. Er obduzierte veraltete Rollenbilder, berichtete von sexuellen Abenteuern oder besang utopische Fantasien. Der überforderte Sachbearbeiter Füllemann habe ihn dann verjagt. In seiner Show schliesst er die Anekdote so ab:
«Jetzt bin ich Frau fürs Militär und mach es ihnen nicht mehr schwer, denn förmlich wurd ich rausgestellt, ich hab sie um einen Mann geprellt.»
Als er 1981 in der Roten Fabrik in Zürich auf die Zirkusgruppe Sheer Madness traf, schloss er sich dort an. Er lernte Minnie Marx kennen, seine spätere Mitbewohnerin und beste Freundin. Sie zogen nach Barcelona, mieteten dort eine gemeinsame Wohnung und waren in ganz Europa unterwegs, bis nach einem Aquaplaning-Unfall ihr Crewwagen samt einer Strassenlaterne einen Totalschaden erlitt. Es war gleichzeitig das Ende der Zirkusgruppe. Minnie und Rafa blieben beieinander, ihr zufällig gemeinsamer Nachname erleichterte ihnen die Bürokratie mit der Wohnung. «Wir waren wie ein Ehepaar, haben alles geteilt – bis auf das Bett natürlich», erzählt Minnie.
Rafa sattelte um und arbeitete von nun an in der Küche. Er backte Kuchen für die umliegenden Cafés und Cafeterias. Es lief gut, er erweiterte sein Catering-Angebot auf weitere Speisen. Es war die Zeit, als Barcelona einen Aufschwung erlebte. Grund dafür war die Bekanntgabe, dass Barcelona zur Olympiastadt wird. So organisierte er beispielsweise einen Apéro für 200 Leute in der kanadischen Botschaft und wurde in der Stadt zum Gourmet-Geheimtipp. Seine Schwester Ruth Marx sagt heute über ihn: «Er war ein Macher, wenn er sich irgend-wo einbrachte, dann immer mit mindestens zweihundert Prozent.»
1988 wurde bei Rafa HIV diagnostiziert. Sein gesundheitlicher Zustand verschlechterte sich von Monat zu Monat. «Er hasste die AZT-Tabletten und meinte immer, dass diese Riesendinger doch für Pferde seien», weiss Minnie noch. Er stieg zeitweise auf alternative Mittel um. 1991 musste er aufgrund seines gesundheitlichen Zustands zurück in die Schweiz. Er konnte sich über Jahre nicht dazu überwinden, seinen Eltern von der Diagnose zu erzählen. Ruth übte irgendwann so viel Druck auf ihn aus, dass er es ihnen sagte. So hatte sie das bereits beim Coming-out gemacht. Seine Eltern unterstützten Rafa und seinen Aktivismus stets. «Er wollte auch einfach nicht, dass unsere Mutter ständig bei ihm aufkreuzt», erklärt Ruth. Rafa zog noch am Eröffnungstag ins Zürcher Lighthouse. Seine Mutter, Erika Marx, fuhr dann zwei- bis dreimal wöchentlich von Kreuzlingen nach Zürich, um ihn dort zu besuchen. «Sie brachte Sandwiches für seine Besucher, man konnte ja rund um die Uhr da sein. Eine richtige jüdische Mutter», erinnert sich Minnie. Am 8. November 1992 verstarb Rafa im Lighthouse in Anwesenheit von Minnie. Es erstrahlte ein Regenbogen über Kreuzlingen, als er dort auf dem jüdischen Friedhof begraben wurde.
Dieses Porträt wurde von Andi Giger verfasst und entstand durch Gespräche mit Ruth Marx (Schwester), Minnie Marx (Freundin und Mitbewohnerin in Barcelona), Andreas Loebel (Freund und Mitbewohner in Zürich), Rob Lengacher (Freund aus Zürich).