«In unserer Kultur spricht man nicht über Sexualität, das war schon in der Sowjetunion so»
Anzhelika Zoloch ist eine erfahrene Psychologin aus der Ukraine, die sich seit vielen Jahren der Beratung von Menschen mit HIV widmet. In ihrer beruflichen Laufbahn hat sie unter anderem für 100% Life gearbeitet, die grösste NGO (Nichtregierungsorganisation) der Ukraine, die sich für die Unterstützung von Menschen mit HIV einsetzt. Aufgrund des russischen Angriffskrieges musste die 35-Jährige 2022 ihr Heimatland verlassen und lebt seither in der Schweiz. Auch hier engagiert sich Zoloch, wann immer es möglich ist, für Menschen mit HIV.
Marlon Gattiker: Welche Mythen gibt es in der Ukraine im Zusammenhang mit HIV?
Anzhelika Zoloch: Dass HIV nur Drogenabhängige betrifft. Aber das ist klar ein Mythos. Heutzutage sind Drogenabhängige sehr gut aufgeklärt und wissen, wie sie sich schützen. Sie sind in Sachen Prävention besser informiert als andere Menschen. Sie wissen auch, was zu tun ist, wenn HIV diagnostiziert wird. Es gibt mobile wie auch stationäre Standorte für saubere Spritzen.
Und was gibt es sonst für Assoziationen zu HIV in der Ukraine?
Die Leute denken, HIV sei dasselbe wie Aids. Sie haben grosse Angst und denken, HIV bedeutet das Ende des Lebens. In der Ukraine ist Selbststigmatisierung fast das grössere Problem als Diskriminierung. Aufklärung an Schulen ist deshalb sehr wichtig, und da war ich auch involviert. Verlegenheit bei den Lehrpersonen ist da ein grosses Thema: Sie schämen sich oft, über Sex zu sprechen. Wir bringen den Schüler:innen bei, mit den Eltern über Sexualität zu reden.
Wie ist der Umgang generell mit dem Thema Sexualität in der Ukraine?
In unserer Kultur spricht man nicht über Sexualität, das war schon in der Sowjetunion so. Die Mütter reden mit ihren Kindern nicht über Sexualität. Ich ermutige die Jugendlichen, mit ihren Eltern über Sex zu sprechen. Leider gibt es auch viel Diskriminierung im Zusammenhang mit verschiedenen sexuellen Orientierungen. Es gibt den Mythos, dass man über Tröpfchenübertragung in der Luft homosexuell werden kann. Die Entstehung solcher Mythen hängt stark damit zusammen, sich nicht auf verschiedene sexuelle Orientierungen und Identitäten einlassen zu wollen. Bei schlecht informierten Menschen geht die Angst um, LGBT-Aufklärung könne dazu führen, dass ihre Kinder queer werden. In der Schule wird Sexualität nur am Rand des Biologieunterrichts behandelt. Echte Aufklärung machen NGOs, wo auch ich gearbeitet habe.
Und wie reagierten die Eltern auf deine Sexualaufklärung?
Manchmal hatte ich Probleme mit den Eltern. Einmal hat mich eine Frau etwa 100 Mal angerufen und sich über meine Sexualaufklärung beschwert. Es sei unglaublich, schliesslich erziehe sie ihre Tochter so, dass man erst nach der Ehe Sex habe. Ich habe ihr dann erklärt, dass sexuelle Gesundheit ein sehr wichtiges Thema ist, gerade um sich zu schützen. Das war ein wichtiges Gespräch für diese Mutter. Sie sagte mir am Schluss, dass sie aus einer sehr religiösen Familie komme, aber Verständnis für meine Arbeit habe.
Was bedeutet der Krieg für Menschen mit HIV?
Menschen mit HIV nehmen die Medikamente in grösseren Mengen an die Front mit und wenn sie Fronturlaub haben, können sie wieder neue Medikamente mitnehmen. Soviel ich weiss, funktioniert die Medikamentenversorgung. Zudem müssen alle einen HIV-Test machen, bevor sie an die Front gehen. Das ist auch ein Weg, um über HIV aufzuklären, besonders bei jungen Leuten. Wir haben viele Leute, die diesen Test machen.
Wie wurde in der Sowjetunion mit dem Thema HIV umgegangen?
Der Regierung war es lieber, dieses Thema unter den Tisch zu kehren, anstatt sich um die Kranken zu kümmern. HIV wurde totgeschwiegen, nicht zuletzt aufgrund der Verbindung zur Homosexualität. Die psychiatrische Zwangsbehandlung von Homosexuellen war sehr gefürchtet und eine HIV-Infektion konnte stets auch als Indiz für Homosexualität aufgefasst werden.
Inwiefern bestehen aufgrund dieser Vorurteile heute noch Bedenken gegenüber Psychotherapie?
Aufgrund der Zwangsbehandlung besteht nach wie vor eine grosse Skepsis gegenüber Psychotherapie. Sich von Institutionen Hilfe zu holen, ist ganz generell für viele noch ein Hindernis – das sind die Spuren der Sowjetunion, dieses Misstrauen. Aber trotzdem sind viele an Psychotherapie interessiert, wollen sich über soziale Medien darüber informieren und schauen, was sie tun können, damit es ihnen besser geht.