Positive Erneuerung

Voller Freude und Stolz setzt sich Gleisson Juvino, ein junger Aktivist der Groupe SIDA Genève, dafür ein, die Bilder vom Leben mit HIV zu dekonstruieren. Die Lebenslauf dieses neuen, non-binären Gesichts des Kampfs ist von den hartnäckigen Vorurteilen aus der Vergangenheit geprägt, erzählt aber auch die Geschichte deren Überwindung.

Gleisson Juvino sitzt in einem Park am Boden und blickt in die Kamera.
© Diego Sanchez

Von Antoine Bal | Dezember 2020

Eine überdimensionierte rote Schleife und fast vierzig Jahre HIV-Geschichte wachen über dieser Begegnung. Mit seinen 28 Jahren ist Gleisson jünger als die Epidemie. Weisse Plateau-Sneakers, Jogginghose mit Druckknöpfen, ein goldener Ohrring. Das Lächeln unter seinem kleinen Millennial-Schnäuzchen ist ansteckend. Gleisson bezeichnet sich selbst als non-binär, stört sich aber nicht am «er». Das hänge immer vom Kontext ab. In diesem grossen Saal der Groupe SIDA Genève tauschen sonst Peergroups Blicke und Erfahrungen aus. Gleisson ist hier seit zwei Jahren ehrenamtlich tätig. Von hier aus kämpft er dafür, etwas zu ändern, damit andere nicht dasselbe durchmachen müssen wie er: das Outen seines HIV-Status, Vorurteile, Schweigen, Stigmatisierung. Gleisson hat sich zum Ziel gesetzt, die negativen Vorstellungen von seinem Leben – von jedem Leben – mit HIV zu dekonstruieren. Und der Name seines Instagram-Blogs, den er seit dem ersten Lockdown führt, ist Programm: «Good HIV vibes only!»

Jung, migrantisch, HIV+

Als Gleisson 1992 in Luziânia, ganz in der Nähe von Brasília, als drittes von fünf Kindern zur Welt kommt, arbeitet Act Up seit fünf Jahren daran, das Massaker einzudämmen und den weltweiten Kampf gegen HIV voranzutreiben. Dreifachtherapien gibt es noch nicht. Zwanzig Jahre später, nach einer KV-Ausbildung in Brasília, arbeitet er für die FUNAI, die nationale Stiftung zum Schutz der indigenen Bevölkerung. «Ich bewegte mich bereits in einem Minderheitenkontext, war durch den Kontakt mit diversen indigenen Völkern Brasiliens sensibilisiert.» Aus dieser Erfahrung nimmt Gleisson mit, dass Administratives allein nicht genügt. Aus Neugier nimmt er ein Jahr Auszeit, um in Paris und Genf, wo seine Schwester seit rund fünfzehn Jahren lebt, Französisch zu lernen. Eine Liebesbegegnung veranlasst ihn, sich Ende 2013 in Genf niederzulassen. Gleisson und sein Partner, von dem er inzwischen getrennt ist, beginnen ein gemeinsames Leben. Er arbeitet in Cafés und Restaurants, gleichzeitig schreibt er sich an einer französischsprachigen Maturitätsschule für Erwachsene ein.

«Es war 2015. Der 17. September. Ich erinnere mich an jedes Detail. Ich erinnere mich, wie die Ärztin mir sagte, ich sei HIV-positiv. Ich kann ihre Stimme noch immer hören, aber ich sehe sie nicht mehr vor mir.» Gleisson hatte sich schon seit einiger Zeit seltsam schwach gefühlt, weshalb er beschloss, sich untersuchen zu lassen. Resultat: niedrige Körper­abwehr, hohe Viruslast. Trotz des Schocks fühlt er sich unterstützt, auch von seinem Partner, der sich am selben Tag als HIV-negativ erweist. Das Ärzteteam beruhigt ihn auch in Bezug auf die Wirksamkeit der Behandlung, auf die wissenschaftlichen Fortschritte. Gleisson wird von der Infektiologie begleitet, in wenigen Monaten ist er undetectable.

Es war 2015. Der 17. September. Ich erinnere mich an jedes Detail. Ich erinnere mich, wie die Ärztin mir sagte, ich sei HIV-positiv. Ich kann ihre Stimme noch immer hören, aber ich sehe sie nicht mehr vor mir.

Ein neues Leben beginnt, doch die Ängste, die sich in seinem Kopf eingenistet haben, sind unmittelbar, sozial: «Ich fragte mich überhaupt nicht, wie ich mich angesteckt hatte. Aber ich fragte mich: Was wird nun aus meinem Leben? Wie werde ich mit meiner Familie und den Menschen um mich herum zurechtkommen? Wie soll ich in der Lage sein, offen darüber zu sprechen, im Wissen, dass ich hier soeben erst Fuss gefasst habe und noch kaum jemanden kenne?»

Trauma und Diskriminierung

«Leider kamen mir all die Bilder in den Sinn, die ich seit meiner Kindheit in mir herum­trage. Prägende Bilder von Aids.» Diese trauma­tischen Bilder gehören weniger zu ihm selbst als vielmehr zu einer Geschichte von gesellschaftlich geteilten und verinnerlichten Vorstellungen. Seit Jahrzehnten halten sie unsere Sexualitäten besetzt. «Ich erinnere mich, als sei es gestern gewesen, an Wortfetzen, an Gerüchte über diesen Jungen aus dem Quartier, wo ich aufgewachsen bin: den ‹Aidsler›. Eine extrem stigmatisierende und beleidigende Bezeichnung. Ohne seinen Status überhaupt zu kennen, redeten die Leute über ihn, über seinen Körper, über seinen Gewichtsverlust und fragten sich, ob er wohl sterben würde oder nicht.» Für Gleisson gehören diese Erinnerungen zu einem Prozess der Selbststigmatisierung. «Im selben Augenblick beschloss ich, nicht darüber zu reden. Drei Jahre lang habe ich weder mit meiner Familie noch mit meinen Freunden darüber gesprochen.»

Um zu verdeutlichen, wie stark er sich innerlich eingesperrt fühlte, erzählt Gleisson vom Weihnachten, das auf seine HIV-Diagnose folgte. Nach seinem Besuch in Brasilien kehrt er mit seinen Eltern nach Genf zurück, wo sie eine Zeit lang bei ihm wohnen sollen. Gleisson fühlt sich in die Enge getrieben. Er hält die Nähe der Eltern in seiner Studentenbude kaum aus. Unter dem Vorwand, kurz einkaufen zu gehen, packt er seine Sachen, nimmt den nächsten Zug, dann den nächsten Flug nach Thailand, wo sein Partner die Ferien verbringt. Er lässt seine Eltern in Genf zurück und erfindet Ausflüchte. «Ich schaffte es weder, es ihnen zu sagen, noch, es vor ihnen zu verheimlichen. Ich brauchte Zeit, um mich zurechtzufinden, um das alles zu verinnerlichen, zu dekonstruieren.»

Das Schweigen, die Unfähigkeit zu sprechen, wird durch hautnahe Diskriminierungserfahrungen verstärkt. Es sickert durch, dass er HIV-positiv ist. Die Nachricht macht die Runde und kommt ihm wieder zu Ohren, als er noch immer unfähig ist, frei über seinen Status zu sprechen. Die Brutalität des Geoutetwerdens schürt seine schon akute emotionale Not. Gleisson ist empört, dass man ihm seine Lebenswirklichkeit derart abspricht. Noch schlimmer ist, dass man in seinem Umfeld das Outing zu verharmlosen versucht. «Wie kann man jemandem so etwas antun? Es war eine Verletzung meiner Person, ich fühlte mich angegriffen, und ich reichte eine Beschwerde ein.» Auch im schulischen Umfeld kommt es zu Schwierigkeiten aufgrund seines Gesundheitszustands.

In privaten Chats bin ich radikal offen, ich sage stets, dass ich mit HIV lebe, aber undetectable bin. Ich nenne die Dinge beim Namen.

Gleisson Juvino
© Diego Sanchez

Befreiendes Wissen

Anonym vertieft er sich zuerst in den sozialen Netzwerken in HIV. Dann entdeckt er die Groupe SIDA Genève, auf Rat seines Arztes, von dem er voller Gefühl erzählt: «Das ist ein wertvoller Aspekt meines Lebens mit HIV, diese Beziehung zwischen Arzt und Patient.» In der Groupe SIDA fühlt er sich aufgehoben und beginnt sich zu engagieren. «Die Groupe SIDA, das ist eine Liebesgeschichte. Hier habe ich eine zweite Familie gefunden. Ich bin freiwillig Migrant, ich lebe weit weg und bin froh, Menschen zu haben, die mir so nah sind.» Als Gleisson sich outet, es zuerst seiner Schwester und dann endlich seinen Eltern sagt, ist er besser in der Lage, sie zu beruhigen – aber auch überrascht, wie viel seine Mutter schon darüber weiss. Dieses Familienwissen erlaubt es Gleisson nicht nur, sich vorbehaltlos und ganz zu zeigen, sondern auch, Unterstützung anzunehmen. «Mir wurde klar, dass ich Anrecht auf diese Unterstützung hatte. Darin finde ich im weiteren Sinn auch die nötigen Ressourcen, um, statt mich zurückzuziehen, mit diskriminierenden Situationen fertigzuwerden – ohne dass ich überreagiere oder die Fassung verliere.»

Resilienz im Aktivismus

Heute teilt Gleisson seine Erfahrungen in zahlreichen Austausch-Workshops in der Gemeinschaft der HIV-Betroffenen, aber auch im schulischen Umfeld. Sein junger, aber generationenübergreifender Lebenslauf, seine Non-Binarität, seine Situation als Migrant – mit all diesen Überschneidungen trägt er dazu bei, neue Bilder, neue Vorstellungen zu schaffen. «In unserem gemeinschaftlichen Projekt ‹Regards Croisés› wird mir bewusst, dass der direkte Kontakt mit Menschen, die mit HIV leben, absolut wesentlich ist. Junge Menschen brauchen nicht nur Schulwissen, sondern auch Identifikation. Wenn sie hier rausgehen, machen sie sich ein neues Bild.»

Zur Dekonstruktion gehört auch die Sprache, die Wortwahl. «Was etwa die Diskriminierung von Menschen mit HIV auf Dating-Apps angeht: In privaten Chats bin ich radikal offen, ich sage stets, dass ich mit HIV lebe, aber undetectable bin. Ich nenne die Dinge beim Namen. Aber es geht auch darum, andere Ausdrücke zu verwenden, zum Beispiel ‹Hast du dich testen lassen?› statt ‹Bist du clean?›.» Aus Gleissons Sicht müsste das Fachwissen der Menschen mit HIV mobilisiert werden, um die alten stigmatisierenden Reflexe bezüglich HIV-Übertragung zu vermeiden, die er seit dem Ausbruch der Corona-Krise wahrnimmt.

Was sind seine Träume? Die Essenz aus seinem bisherigen Lebensweg weiterverfolgen, sagt Gleisson, und das Schlimmste in eine gesellschaftliche Kraft verwandeln. «Der Nutzen ist zweifach: für mich und für die andern.» Und im Herbst der Pandemie voller Stolz an einem Strand leben.