Ricardo: Zwischen Rausch und Realität

Mit 35 Jahren verkörpert Ricardo die Komplexität der Lebenswege von queeren Menschen, die mit HIV leben, bei denen der Konsum von Substanzen eine Strategie der Transformation, Selbstdefinition und Selbsterforschung werden kann.

Eine post-moralistische Lesart 

Porträt von Daniel Ferreira und Loris D’Albenzio Allo

Ricardo 1 (Name geändert) kommt in den 90er-Jahren in Brasilien zur Welt und zieht als junger Mann in die Westschweiz. Als er 2006 zum ersten Mal Ecstasy nimmt, entdeckt er dort soziale Räume: «Das war genial, ich war vorher wirklich introvertiert. Tanzen zu können, zu sehen, wie sich Jungs küssen … ich habe mich endlich zu Hause gefühlt.» Diese erste Erfahrung veränderte seine Beziehung zur Community: «Es hat mich für die Menschen geöffnet. Ich schwebte zwei Wochen lang wie auf Wolken.»

Im Jahr 2007 verändert die Diagnose sein Selbstverständnis: «HIV hatte definitiv Einfluss auf meinen Konsum», erklärt er und beschreibt, wie seine sozialen Räume, in denen sich Substanzen und Körper begegnen, zu bevorzugten Orten der Exploration und der Wiederaneignung einer neuen sozialen Realität wurden. «Es ist unglaublich, wie diese beiden Gruppen – Menschen mit HIV, die Party machen und die Drogen nehmen – fast die gleiche Kate­gorie sind», bemerkt er. In diesen gemeinschaftlichen Praktiken findet Ricardo zunächst einen Raum, wo er seinen Status teilen kann. «Ein Jahr lang habe ich nur mit anderen Menschen mit HIV darüber gesprochen.» Dieser selektive Austausch entwickelte sich nach und nach zu einer Strategie der befreienden Transparenz. Das Stigma wird so zu einem pädagogischen Werkzeug, und die Konsumräume werden zu Brutstätten für eine neue Beziehung zu seinem Status.

Im Jahr 2010, als er undetectable wird, sieht Ricardo, wie sich sein Verhältnis zu seinem Körper und zu seinem Status parallel zu seiner Beziehung zu den Substanzen und den sozialen Aktivitäten in diesen Räumen weiterentwickelt. Die Gespräche in der Community tragen aktiv zur Verbreitung und Aneignung medizinischer Fortschritte bei – insbesondere zum Thema der Nicht-Nachweisbarkeit – und zeigen, wie diese Räume auch als Informationskanäle für wissenschaftliche Erkenntnisse innerhalb der Community dienen können. Er entdeckt auch andere Formen von Fürsorge innerhalb der «Partouzeur»-Gruppen: Formen von Intimität, die über herkömmliche Vorstellungen hinausgehen:«Jungs, die sich spritzen 2, aber auch Umarmungen wollen, das ist verrückt.»

Der Konsum von Substanzen ist zwar befreiend, birgt aber auch Gefahren. Zweimal erlebte er schwierige Momente aufgrund seines Konsums, sowohl auf psychologischer und sozialer als auch auf körperlicher Ebene: «Ich sagte mir immer wieder, dass ich es übertreibe, dass ich ein Problem habe.» Diese Momente waren auch Zeiten der Neudefinition seiner Ziele und führten dazu, mit knapp vierzig seine Sichtweise auf Substanzen und deren Rolle anzupassen: «Jetzt lebe ich mein Leben, ich frage mich, was mir guttut, und konzentriere mich auf andere Ziele.»