«Wir müssen uns zeigen»

Der Brasilianer Alberto Pereira da Silva lebt seit fünf Jahren offen mit HIV. Er setzt sich für die queere Community und Menschen mit HIV ein. Wir haben ihn an der Welt-Aids-Konferenz in München getroffen.

Angela Keller, Positive Life Advisory Board

Angela Keller: Alberto, du lebst offen mit HIV, warum?

Alberto Pereira da Silva: HIV hat kein Gesicht, wir müssen uns zeigen und den Leuten mitteilen: Schau her, ich habe HIV, mir geht es gut, ich habe ein gutes Leben. Die Leute denken bei HIV immer sofort an Aids und an dünne, ausgemergelte Personen, die dem Tod nahe sind. Doch wir sind in einer neuen Zeit angelangt: HIV ist etwas anderes. 

 

Welches Bild hat man in Brasilien von HIV?

Es ist noch immer stark vom berühmten Sänger Cazuza geprägt, der 1990 an Aids gestorben ist. Doch das ist nun 34 Jahre her! Noch heute sterben Menschen, doch sie sterben, weil das Stigma um HIV so gross ist: Sie fühlen sich isoliert, einsam, haben Depressionen und getrauen sich vor allem nicht, zum Arzt zu gehen und Medikamente zu nehmen. Dabei haben wir in Brasilien freien Zugang zu den Medikamenten – ART und PrEP sind gratis.

 

Was gut weiss man in Brasilien über HIV Bescheid?

Es ist erschreckend, wie schlecht die Bevölkerung informiert ist! Meine queere Community ist gut orientiert, wir wissen, dass es Medikamente gibt. Das Gesundheitssystem ist sehr gut, doch das wissen die heterosexuellen Menschen nicht. Die Prävention zielt nur auf die homosexuellen Männer ab. In der Karnevalsaison gibts immer grosse Kampagnen. Doch man hat das ganze Jahr Sex! Und Heteros sind ebenso betroffen, in der Regel benutzen straighte Männer in Brasilien keine Kondome und kümmern sich nicht um HIV. Wer nicht schwul ist, kommt nur schlecht zu Infos. Wir von der schwulen Community haben die Aufgabe, die Menschen aufzuklären.

 

Was stört dich noch?

Die Bevölkerung weiss nicht, dass man unter erfolgreicher Therapie nicht ansteckend ist. In Brasilien zweifeln sogar viele Ärzte an U = U (Undetectable = Untransmittable), gut ein Viertel (26 %) glaubt nicht daran, dass das Virus nicht übertragbar ist, wenn es nicht mehr nachweisbar ist. Man glaubt, dass man die Information über U = U nicht verbreiten muss, aber so bleiben all die vielen Vorurteile weiter bestehen.

 

Was bedeutet U = U – Undetectable = Untransmittable für dich persönlich? 

Das war ein absoluter Gamechanger. Zu wissen, dass ich nicht mehr ansteckend bin, hat mich mehr als erleichtert: Von dem Moment an fühlte ich mich frei.

 

Was für weitere Mythen und falsche Vorstellungen zu HIV gibt es in Brasilien?

Für viele sind HIV und Aids dasselbe. Viele wissen nicht, wie man HIV kriegt, und glauben, es sei via den Speichel oder beim Händeschütteln übertragbar. Es besteht sicher ein grosser Unterschied zwischen der ländlichen Bevölkerung und den Menschen in den Grossstädten. Der ehemalige Präsident Bolsonaro verbreitete Fake News: Er sagte, dass man aufgrund der Covid-Impfung an Aids erkranke, und kürzte zudem das Budget für HIV-Prävention massiv.

 

Bezeichnest du dich als Aktivist?

Ich bin mehr und mehr aktivistisch. Wenn beispielsweise die Medien Falsches über HIV oder Aids verbreiten, rufe ich dort an. Ich werde auch viel von Menschen kontaktiert, die eine positive Diagnose erhalten haben. Ich unterstütze und informiere sie. Aber HIV ist nicht mein einziges Thema, ich setze mich ganz grundsätzlich für Menschlichkeit und gegen Diskriminierung ein. Auf Social Media teile ich vieles aus meinem Leben. Ich bin unabhängig unterwegs und arbeite nicht innerhalb einer Organisation. 

 

 

 

Alberto Pereira da Silva, 37, Journalist und Social Artist

Lebt in São Paulo, Brasilien, Instagram: @albertopereirajr

 

Wie lange lebst du mit HIV?

Ich habe die Diagnose seit 2009. Ich hatte eine Art Warze am Nacken und liess mein Blut untersuchen, unter anderem auf HIV. Als ich dem Labor für den Zweitnachweis nochmals Blut geben musste, vermutete ich, was los ist. Das Resultat erhielt ich am Morgen früh, danach arbeitete ich bis am Abend durch, ich musste einen Artikel fertigschreiben. Danach ging ich nach Hause, ich wohnte noch daheim, und erzählte es meiner Familie.

 

Das tönt recht entspannt …

Die Diagnose war nicht einfach, doch ich wusste, dass es Medikamente gibt und dass ich mir keine Sorgen um mich machen muss. Die ersten sechs Monate nach der Diagnose waren hart. Ich fühlte ich mich nicht wert, geliebt zu werden, und dachte, ich sei total unattraktiv. 

 

Wie hat deine Familie reagiert?

Sehr wohlwollend: Sie haben mich aufgefangen und unterstützt. Ich bin aus dem Mittelstand, meine Eltern sind gebildet und recht gut informiert. Zwei Jahre zuvor hatte ich schon mein Outing als homosexueller Mann, auch da haben sie mich voll und ganz akzeptiert. Ich bin aber auch nie mit der Haltung durch mein Leben gegangen: Bitte akzeptiert mich trotzdem. Mir war immer bewusst, dass ich so bin, wie ich bin.

 

Wie haben deine Freunde reagiert? 

Ich habe es zuerst nur wenigen Freunden gesagt. Als ich 2012 mit den Medikamenten anfangen konnte – damals änderten die Vorgaben zur Medikation, man konnte die Therapie auch beginnen, wenn die T-Helferzellenwerte noch hoch waren –, war das eine Erlösung: Ich bin seither nicht mehr ansteckend. Bei meinen Sexualpartnern habe ich mich immer geoutet, wenn es etwas Ernsthaftes ergab. Und: Ich wurde nie zurückgewiesen, keiner hat mich deswegen verlassen. Heute bin ich verheiratet, mein Partner ist negativ. 

 

Wie kam es zum Outing?

2019 nahm ich an einem Kunst-Workshop zu HIV teil, es ging dann darum, etwas dazu zu kreieren. Ich wollte nicht einfach etwas über HIV im Allgemeinen machen, sondern über mich und HIV. Ich habe in Anlehnung an den Aids Memorial Quilt in den USA* einen Quilt genäht, an die Wand gehängt und mich davorgestellt. Auf meinem T-Shirt stand: «Alberto, bicha, preta, desagitario , indetectable, brasil» (Alberto, queer, schwarz, Schütze, nicht nachweisbar, brasilianisch). Daneben gab es ein Schild: «Berühre mich», als Gegensatz zu den Hinweisen in den Museen: «Nicht berühren». Nach dieser Kunstaktion teilte ich einem grösseren Freundeskreis meine Diagnose mit und gab in einer Zeitschrift ein Interview. 

 

Wie waren die Reaktionen?

Ich habe viel Verständnis und Zuneigung erlebt. Alles andere als Diskriminierung. Viele haben gesagt: Warum hast du es nicht vorher mitgeteilt, du hättest es mir sagen können! Auch auf Social Media habe ich seither keine negativen Rückmeldungen erhalten. Ich hatte aber auch nie Angst davor, denn es ist mir egal, was andere von mir denken. Ich versuche zu zeigen, dass HIV etwas Normales ist, mit dem man gut leben kann.

 

Du bist an die Welt-Aids-Konferenz in München gereist. Was erlebst du hier?

Ich wurde von M-Pact** eingeladen, einer globalen Organisation, die sich für die Gesundheit und die Rechte homosexueller Männer einsetzt. Ich entdecke hier viele neue Projekte, tausche mich aus und lerne die unterschiedlichsten Menschen kennen. Ich will mich vor allem mit der Community verbinden – und unser Netzwerk vergrössern. 

 

Was hat sich in deinem Leben dank der HIV-Diagnose positiv verändert?

Ich bin mir besser über meinen Körper und meine Gesundheit bewusst. Dass ich darüber spreche, hat mich stärker gemacht. Ich bin, wer ich bin. 

Brasilien und HIV:

Etwa eine Million Menschen leben in Brasilien mit HIV, 78 Prozent davon nehmen ART. Brasilien hat die höchste HIV-Rate in den südamerikanischen Ländern. 110 000 Personen nehmen PrEP.

 

U  = U (Undetectable = Untransmittable),

Die Botschaft Undetectable = Untransmittable (U = U) wird in HIV-Kampagnen verwendet. Sie besagt, dass Menschen mit HIV unter erfolgreicher Therapie HIV nicht übertragen können. U = U wird von der Weltgesundheitsorganisation (WHO) unterstützt. Die U = U-Kampagne wurde Anfang 2016 von der Prevention Access Campaign in New York ins Leben gerufen. Sie zielt darauf ab, die Stigmatisierung von HIV abzubauen, um die Lebensqualität der Betroffenen zu verbessern und so die Epidemie zu beenden.